: Auf einmal dämmerte es dem Banker...
■ Verfertigung der Gedanken eines globalwirtschaftlichen Hirns beim S-Bahn-Fahren
Eine kurze Fahrt auf der S-Bahn vom Westen in den Osten Berlins ist besser geeignet, Gedanken über die Vorgänge in Deutschland — nein: Europa — zu verfertigen als vieles, das man liest und hört.
Ich besuche die Stadt, seitdem die Mauer zusammenfiel. Ich war sogar am 2. Oktober 1990 da, dem Tag vor der Ausrufung eines einzigen deutschen Staates. Aber ich bin nie zuvor in der S-Bahn von einer Seite eines nicht länger geteilten Berlin auf die andere gereist.
Es war ein Erlebnis; vom weißgekleideten Aufseher am Bahnhof Tiergarten, der unerwarteterweise zur Hilfe erschien, als ich an einem Automaten, der Geld annahm und wechselte und mich auf den Weg schickte, eine Fahrkarte kaufte, bis zum abgerisseneren Kollegen an der Friedrichstraße, der mich durch das gräßliche Grau führte.
Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. In den letzten paar Jahren ist so viel passiert, was so viele für unmöglich hielten. »Es wird nie eintreten, nicht zu unseren Lebzeiten.« Jetzt kommen wir genauso selbstsicher zu neuen Schlüssen, nicht nur über Deutschland sondern auch über seine östlichen Nachbarn. Wir meinen, mit ein bißchen Demokratie und ein bißchen Hilfe wird alles irgendwie gehen.
Auf dieser kurzen Fahrt fragte ich mich: Was kommt als nächstes? Manche in Deutschland sagen: Wir brauchen Investitionen, verbunden mit einem Privatisierungsprozeß, und irgendwann werden die im Osten, die weniger haben, mehr besitzen. Dann wird dasselbe überall in Osteuropa passieren. Vielleicht dauert dieser Prozeß ziemlich lange, sicherlich sogar in den Augen und Mägen derjenigen, die aufholen sollen, aber es ist Konsens, daß wir auf dem richtigen Weg sind.
Diese Vereinfachung kann so nicht stehenbleiben, ohne daß man hinzufügt, was sogar Optimisten fragen: Was für einen Effekt werden rassische, ethnische und religiöse Differenzen auf diese komplexe Landmasse haben? Werden Serben und Kroaten in Frieden leben? Was ist mit den Bosniern und Mazedoniern? Den Armeniern und den Aserbaidschanis? Den Polen und Ukrainern? Den Algeriern in Paris? Den Türken in Frankfurt?
Das ist zwar ein bißchen viel für eine Fahrt zu drei Mark. Aber versuchen Sie es selbst. Und achten Sie dabei auf Ihre Gedanken. John D. Philipburn
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