: Auf der Couch der Öffentlichkeit
■ Noch eine Wochenzeitung: 'Der Anzeiger‘ Wochenzeitung für Politik, Kultur und Kunst
Das ist so eine Geschichte mit den Deformationen. Erst war es nur eine Verletzung der Leninschen Normen des Parteilebens, dann war es der falsche Politiktyp, dann gleich die bittere Niederlage des Sozialismus als Ganzes und dann? Hinterm Horizont des Systems geht's nicht mehr weiter. Die nächsten Deformationen dürften vermutlich wieder zurückgeworfen in der Sonderheit des Individuellen lagern und von dort aus neues Unheil aussenden.
Die Intellektuellen dieses Landes, gerade wenn sie noch der Stillhalte-Periode des entwickelten Realsozialismus entstammen, spüren das so deutlich und sie wollen sich helfen. Sie gründen Zeitungen, und daß sie das jetzt können, ist gute Frucht des ansonsten für bedenklich befundenen Wandels. 'Der Anzeiger‘ ist eine solche Zeitung. Dieses Blatt, mit dem laschgrünen Balken im Kopf dem 'Bauern-Echo‘ durchaus ähnlich und bezüglich des luftigen Layouts nicht weit von 'Der Anderen Zeitung‘, die desgleichen im Basis -Druck-Verlag erscheint, hat Gott sei Dank kein Konzept. Dem geneigten Leser wird nichts vorgesetzt, was man ihm als Informationsbedarf andichtet, sondern nur das, was die Macher ureigenst angeht.
So liest sich der 'Anzeiger‘ in den ersten beiden Ausgaben (Ersterscheinung auf dem Markte war der 6. April) wie eine freie Assoziation auf der Couch der Öffentlichkeit. Ein Spiel mit Urteilen, und dem beisitzenden Leser bleibt es überlassen, das tieferliegende Motiv zu erkennen.
Versuchen wir uns an einer Deutung: Männer in Anzügen/Liebe Deutsch-Freunde/Deutsche Piep-Show/Betrogen und verraten/Die verramschte Revolution. Man hat die Wahl erlebt und muß es fassen. Die Rede eiert zwischen bitter-kaltem „Realismus“ (die intellektuelle Einfühlung für die politische Minderbemitteltheit der breiten Massen, streng marxistisch aus deren bedrückenden Lebensumständen erklärt, wenn auch nicht verziehen) und altväterlich-düsterer Prophezeiung (da sich das Volk nun vergriffen hat, wird's ganz schlimm kommen, etwa Umtauschkurs 1:8), die auch Ironie nur schlecht verhüllt.
Aber all dies ist nötig, um zu verdrängen, daß man sich einfach völlig geirrt, daneben gedacht, getäuscht, auf den eigenen Nabel gestarrt, mit alten Begriffen neue Zustände abgefertigt hat und so weiter. Alle Versatzstücke der Lebenslüge enttäuschter Weltenwender kehren zurück im Schwall der Betrachtungen und Essays. Irgendwie, irgendwo, irgendwann, vielleicht am berühmten 4. November (glory halleluja) wäre noch alles drin gewesen. Die ganz andere Mache im Gemeinwesen, Räte und freundlich Städte. Aber jetzt ist das Volk deutsch (deutsch-dumm-faschisierend) geworden und die Männer in den Anzügen (Ödipus) verhindern wieder alles, wo man schon ganz nah dran war. Es ist paradox. Teilen die Kämpfer gegen den staatssozialistischen Absolutismus die Feindbilder mit ihren Feinden? Die orthodoxe These Markt kontra Menschengemeinschaft argumentiert mit nicht vergleichbaren Ebenen. Irgendwo lauert das Böse, irgendwo draußen im Produktionsverhältnis.
Die Thematisierung der RAF im Aufmacher der zweiten Nummer geht fraglos aus dieser Verdrängungsstrategie hervor. Wie lange soll dieses Gespensterstück nicht so sehr verzweifelter als vielmehr ungenauer Theoretiker noch aufgeführt werden?
Im 'Anzeiger‘ findet die Wirklichkeit nicht statt. Befindlichkeiten anstelle der Kritik. Eine Gesellschaft zerbirst, und die Architekten malen weiter, wo Archäologie nottäte. Der 'Anzeiger‘ zeigt an, daß es seinen Machern nicht gut geht. Veröffentlichte Rede mag ihnen helfen.
Günther Rosenow
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