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■ Auf dem Balkan schreitet die ethnische Entmischung fortFeuer frei auf Bosnien!

Keiner der „großen“ Politiker dieser Welt hat die multikulturelle Gesellschaft Bosniens je als „Wert an sich“ angesehen, die es verdiente, verteidigt zu werden. Und leider sehen sogar jene, die vorgeben für Frieden und Menschenrechte zu kämpfen – wie die Grüne Partei in Deutschland, aber nicht nur sie – dem Prozeß der ethnischen Entmischung stumm und tatenlos zu. Die serbischen und kroatischen Nationalisten brauchen nicht einmal mehr Schelte zu befürchten. Ja, die serbische Seite wird sogar zunehmend dafür gelobt, daß sie nach getaner Arbeit nun den Waffenstillstand anzubieten scheint. Und den internationalen Hilfsorganisationen bleibt gar nichts mehr anderes übrig, mit dem Argument Leben zu retten, den Prozeß der ethnischen Entmischung durch den Austausch von Gefangenen und durch die Hilfe für die Ausreise der jeweiligen Opfer zu befördern.

Nur wenige schwimmen noch gegen den Strom und versuchen, daran zu erinnern, daß mit der Gesellschaft Bosniens auch ein Standbein der europäischen Kultur zerstört wird. Daß mit dieser Zerstörung auch in Westeuropa eine verhängnisvolle Entwicklung in Richtung Nationalismus und Barbarei entstehen wird. Daß wir nicht zulassen dürfen, daß in diesem Winter mitten in Europa und am Ende des Jahrtausends über eine Million Menschen verhungern.

Die „ethnische Entmischung“, die Vertreibung und Ermordung der „anderen“, die in den von den kroatischen und serbischen Nationalisten beherrschten Gebieten jetzt fast abgeschlossen ist, greift nun zunehmend auch im restbosnischen Gebiet um sich. Die Entmachtung der kroatischen Streitkräfte in Sarajevo ist dafür nur das unbedeutendste Indiz, sind doch die Vorwürfe nicht aus der Luft gegriffen, die kroatisch- bosnische HVO baue auch in der belagerten Stadt Kontakte zu den Serben auf. Zwar wehren sich viele in Sarajevo, Tuzla und Zenica gegen diese ungute Tendenz. Je schlimmer jedoch der Hunger werden wird, je länger der UNO-Generalsekretät Butros Butros Ghali das Verdikt aufrechterhält, die Hilfslieferungen zu stoppen, um so mehr werden sich die in den restbosnischen Gebieten lebenden Serben und Kroaten mit Hilfe der internationalen Organistionen bemühen, aus den Kesseln herauszukommen – einfach um zu überleben.

Die 1.500 Personen, die jetzt Sarajevo verlassen, sind nur eine Vorhut. Es ist zu befürchten, daß gerade in dem Augenblick, an dem die letzten Kroaten und Serben Restbosnien verlassen haben, der Befehl „Feuer frei“ gegeben wird. Aber vielleicht wird er angesichts des Massensterbens nicht einmal mehr nötig sein. Erich Rathfelder

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