■ Auf-Schlag: Das mentale Etwas
„Same procedure as last year“. 252 Männer und Frauen haben sich versucht. Vergeblich. Die Endspiele von Melbourne bestritten die vier, die auch in der Weltrangliste oben stehen: Courier und Edberg, Seles und Graf. Sport lebt von Überraschungen, von neuen Gesichtern, vom Sturz (oder zumindest vom Wackeln) der Großen. Nichts davon ist geschehen (Ausnahme Becker beim ersten Match) – so gesehen sind die Australian Open 93 von wenig Kurzweil gewesen. Stagnation ist Rückschritt.
Auf das ganz große Match hat man Tag für Tag vergeblich gewartet. Nur dreimal hat ein Spieler einen 0:2-Rückstand noch herumbiegen können, bei Vorrundenspielen auf den Nebenplätzen. Es gilt mehr denn je: Wer den ersten Satz gewinnt, ist klarer vorn als 1:0. Alle Halbfinals gingen zu Null über die Bühne, bei den Herren dazu alle vier Viertelfinals. Als Sabatini und Seles einmal einen Satz abgaben, antworteten sie mit 6:0, als wollten sie die Unterlegenen für ihr unbotmäßiges Aufbegehren extra bestrafen.
Die Attraktion des Tennissports leidet erheblich unter dem Alltäglichen. Im Fernsehen gehen die Einschaltquoten zurück, und in Melbourne waren nicht einmal die Halbfinalspiele und auch nicht das Damenendspiel ausverkauft. Dabei wird der ehemals so ästhetische, elegante Sport nicht von den Aufschlägern allein kaputtgemacht – ein gutes Service ist allemal eine notwendige Bedingung für den Erfolg, aber beileibe nicht hinreichend. Sonst wären die beiden Rekordler Stich (211 Stundenkilometer) und Sampras (200) nicht ausgeschieden. Der Trend im Tennis geht, Tendenz steigend, zum Kopfspiel. Zum Poker. Zum Spiel nicht gegen, sondern, im Doppelsinne, mit dem anderen.
Warum sind die ganz Guten so viel besser als die Guten? Die Antworten der Betroffenen gehen alle in die gleiche Richtung. Sabatini über Seles: „Das Beste ist ihr Kopf“, bei jedem Ball sei sie auf den Punkt konzentriert. Kiwi Brett Steven: „Die ganz Großen sind eine ganze Nummer größer, weil sie immer das Selbstvertrauen haben, etwas ganz Besonderes zu tun, wenn sie es am nötigsten brauchen.“ Michael Stich macht „das mentale Etwas“ bei Courier aus, nicht die besseren Schläge. Jim Courier bestätigt: Der Kopf müsse absolut frisch sein, in jeder Sekunde, „da darf dich nichts vernebeln“. So spielte er auch, und so gewann er, psychisch top.
Tennissiege also durch Selbstbewußtsein, Nervenstärke, Erfahrung, Geduld und Eiseskälte statt begeisternder Spielkunst. Boris Becker, wäre er noch da, würde jetzt sagen, nicht 95 Prozent, sondern mindestens 100 Prozent eines Matches würden zwischen den Ohren entschieden. Also Rackets beiseite. Tennisspiele werden nur noch durchgedacht, vielleicht noch, wie beim Schach, ein paar Figuren hin- und hergeschoben. Man würde viel Schweiß und Publikumsernüchterung sparen. -müll-
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