■ Auch bei der Pflegeversicherung – krumme Touren: Neue Wege braucht das Land
Wenn die Pflegeversicherung greift, so hat Heiner Geißler einmal vorgerechnet, könnte der Anteil der Sozialhilfeempfänger in den Heimen von heute 90 auf etwa 15 bis 20 Prozent gesenkt werden. Die Zahlen beschreiben die Lücke, die aufgrund der demographischen Entwicklung im sozialen Sicherungssytem klafft: Neun von zehn Menschen fallen in Abhängigkeit, wenn sie im Alter pflegebedürftig werden. Die Zahlen sagen aber auch etwas über die gesellschaftliche Anstrengung, die nötig ist, um sie zu schließen. Ehre, wem Ehre gebührt: Wenn die Koalition das zuwege bringt, dann verdient sie Lob, obwohl die Sache verspätet kommt und in hochpeinlichen Verfahren geboren wurde. Aber bringt sie es denn zuwege? Die Konstruktion steht rechtlich auf wackeligen Füßen, und der Einschnitt in die Lohnfortzahlung eröffnet ein neues Feld des Streits mit ungewissem Ausgang.
Die Bundesregierung ist nicht deswegen zu kritisieren, weil sie nach Wegen sucht, die Pflegeversicherung ohne Anstieg der Lohnkosten zu finanzieren. Schlimm ist nur, daß sie das auf krummen Touren versucht. Anstelle der längst überfälligen Diskussion, wieviel uns die soziale Sicherheit wert sein muß, provoziert sie einen kleinlichen, unproduktiven Streit. Die Gewerkschaften werden ja beinahe genötigt, sich zu wehren, wenn mit der Pflegeversicherung ein ordnungspolitischer Teilsieg auf ganz anderem Terrain erschlichen werden soll. Wahrscheinlich werden sie diese Auseinandersetzung verlieren und dann ihrerseits nach Kompensationen suchen – eine Sackgasse.
Es ist zwar wunderbar plakativ, wenn SPD oder Grüne beklagen, die Regierung ließe nun die Kranken für die Pflegebedürftigen zahlen – es führt leider nur nicht weiter. Ganz unabhängig davon, daß die Konjunktur mies und die Staatskassen leer sind, wäre das Pflegerisiko ein guter Anlaß, über neue Wege der sozialen Absicherung nachzudenken. Steckt in der Anfrage der Arbeitgeber, was die Pflege eigentlich noch mit dem Arbeitsverhältnis zu tun hat, nicht ein Korn Wahrheit? Und seit wann ist das lupenreine Prinzip der anteiligen Arbeitgeber-/Arbeitnehmerbeiträge denn der Kern des Solidarprinzips?
Als das System der Sozialversicherungen vor über 100 Jahren entstand, galt für die Durchschnittsbiographie: 14 Jahre Kindheit und Jugend, 50 Arbeitsjahre, dann ein kurzer Lebensabend. Heute dauert die Rentenzeit nicht selten ebenso lange wie das Berufsleben, und das Zahlenverhältnis von Jungen und Alten in der Gesellschaft hat sich gründlich verschoben. Zu den Stärken der Bundesrepublik gehört die klug ausbalancierte Wechselbeziehung zwischen sozialer Sicherheit und ökonomischer Leistungsfähigkeit. Sie droht aus den Fugen zu geraten. Ein redlicher Vorschlag im Fall der Pflegeversicherung könnte sein: Die Versicherten zahlen ihren kompletten Beitrag selbst. Das wäre teuer, aber ein reelles Geschäft. Tissy Bruns
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