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Atomkatastrophe in FukushimaDesaströses Zeugnis für alle Beteiligten

Ein Jahr nach Fukushima dokumentiert ein Bericht das Versagen von Atomindustrie und Politk. Er zeigt, dass die Regierung mit dem Schlimmsten rechnete.

Die japanische Regierung befürchtete, Tokio evakuieren zu müssen: Flughafen Narita im März 2011. Bild: dapd

BERLIN taz | Es war ein Anschiss von höchster Stelle: Am Dienstag, dem 15.März 2011, poltert Japans Premierminister Naoto Kan morgens um halb sechs ins Hauptquartier des Stromkonzerns Tepco. Vor den 200 Angestellten erklärt er: „Ein Rückzug kommt nicht infrage. Das Schicksal Japans steht auf dem Spiel!“

Sollten die Strommanager das havarierte AKW Fukushima Daiichi aufgeben, würde das zehn bis zwanzig weitere Reaktoren gefährden. Es würde zwei- bis dreimal die Strahlenbelastung der Katastrophe von Tschernobyl verursachen und sicher eine Intervention von Russland und den USA nach sich ziehen.

Die Tepco-Angestellten, ruft der Premierminister, sollten ihre Pflicht erfüllen und im Zweifel ihr Leben aufs Spiel setzen, um die durchgebrannten Reaktoren in Fukushima wieder unter Kontrolle zu bringen.

Fukushima-sonntaz

11. März 2011: Als in Japan die Erde bebte, saß die Biobäuerin Chieko Shiina in der Badewanne, das Wasser vibrierte, sie hatte Angst. Heute campiert sie in Tokio vor dem Wirtschaftsministerium und protestiert gegen die Atomkraft. Das sonntaz-Spezial ein Jahr nach Fukushima erzählt ihre Geschichte. Und die eines Arbeiters, der das Beben mitten im AKW erlebte. Zudem auf den 20 Seiten am Wochenende: Streifzug durch Tokios Kulturszene. Essay zu Restrisiken. Positionen der AKW-Gegner Mycle Schneider und Jochen Stay. Streitgespräch mit Atomlobby-Chefin Astrid Petersen. Themenübersicht: www.taz.de/sonntaz

Diese dramatische Szene beschreibt ein Bericht, den die unabhängige Kommission der Rebuild Japan Initiative Foundation (RJIF) zum Jahrestag des Desasters vorstellt. Die Untersuchungsgruppe hat 300 Zeugen befragt, Manager, Politiker und Techniker. Der Bericht „Rückblick auf Fukushima: Eine komplexes Unglück, eine verheerende Reaktion“ stellt dem Betreiber Tepco, der japanischen Atomindustrie und der Politik ein desaströses Zeugnis aus.

Alle Beteiligten seien „auf fast jeder Stufe des nuklearen Desasters grundsätzlich unvorbereitet“ gewesen: Grundlegende Annahmen über die Sicherheit von Atomanlagen seien falsch gewesen, die Notfallpläne nicht eingeübt, die Aufsichtsbehörden inkompetent und die Warnsysteme hätten nicht funktioniert.

Geheim gehaltenes Szenario

Als der inzwischen abgelöste Kan bei Tepco seinen Auftritt hat, steht ihm ein Szenario vor Augen, das die Politik nach dem 11. März lange geheimhalten wird: Laut der Atomenergiekommission AEC müssten die Arbeiter im Fall einer größeren Explosion an einem der Reaktoren in Fukushima das Gelände aufgeben. Dann blieben auch die anderen Reaktoren ungekühlt.

In einer Kettenreaktion würden sie ebenfalls so massiv Radioaktivität ausstoßen, dass die Bevölkerung bis zu 170 oder gar 250 Kilometer von Fukushima entfernt evakuiert werden müsse. Wenn der Wind schlecht stehe, müssten womöglich auch die 30 Millionen Einwohner von Tokio aus der Stadt gebracht werden.

Bereits im Dezember hatte eine Regierungskommission einen Zwischenbericht vorgelegt, der bemängelt, dass die Angestellten in Fukushima für Notfälle nicht trainiert waren und keine klaren Anweisungen bekamen. Die Bevölkerung sei nicht rechtzeitig über die nukleare Belastung informiert worden. Die Tepco-Version, nach der die Katastrophe nicht vorherzusehen war, sei falsch.

Laut der Zeitung Yomiuri Shimbun stand das Land offenbar vor einer noch größeren Katastrophe. Das Blatt zitiert Naohiro Masuda, den Chef des AKW Fukushima Daini, das 12 Kilometer südlich der Unfallreaktoren liegt, mit der Aussage, sein Werk habe „fast das gleiche Schicksal wie Fukushima Daiichi erlitten“. Auch in Daini hätten drei der vier Reaktoren vor der Kernschmelze gestanden. Sie seien nur gerettet worden, weil eine externe Stromleitung noch die Kühlungspumpen versorgte.

Masuda: „Wir hatten Glück, dass das Unglück am Freitag passierte.“ 2.000 Arbeiter waren vor Ort, am Wochenende wären es nur 40 gewesen.

Politik hatte keine Befehlsgewalt

Den Hauptgrund für das Debakel sieht die RJIF-Studie in der „systematischen Verdrängung des Risikos“ in der japanischen Atomgemeinde und im eklatanten Versagen der Atomaufsichtsbehörde NISA. Sie bemängelt widersprüchliche Befehlsketten bei Tepco und eine „Panik unter den Eliten“ in der Regierung.

Schließlich stellt der Report auch infrage, dass die Atomwirtschaft als privates Unternehmen organisiert sei. Dadurch habe die Politik in der Notsituation keine direkte Befehlsgewalt über Tepco und seine Angestellten gehabt: „Selbst in einer Krisensituation kann ein politischer Führer nicht privaten Angestellten befehlen, zu sterben“, schreiben die Experten.

Für die heiklen Arbeiten am Reaktor mussten Feuerwehrleute und die Armee eingesetzt werden. Als die ortsfremden Soldaten mitten in der Katastrophe eine genaue Karte der Atomanlage forderten, wurde sie ihnen von Tepco verweigert. Begründung: Die Herausgabe verstoße gegen Sicherheitsvorschriften.

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6 Kommentare

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  • M
    Markus

    Interessant dass es in einem Land das 2 Atombombenabwürfe und deren Folgen erlebt hat, die Atomlobby geschafft hat, alles als sicher zu verkaufen...außerdem haben sie es verstanden die Ihnen gewogenen Personen in den richtigen Ämtern und Schlüsselstellungen zu Positionieren und alle anders denkenden Mundtod zu machen...

  • S
    schaf

    Japanische Qualität und Zuverlässigkeit war der unseren im Autobau lange überlegen. Berechtigt uns irgendetwas zur Annahme, europäische Atomsicherheit sei überlegen?

    Einzelnen Vorzügen stehen vermutlich andere Nachteile gegenüber, die europäische Verantwortliche kaum ausplaudern werden.

     

    Hauptziel aller Katastrophenübungen ist "Panik vermeiden" und wenn (in Regensburg) die eigentliche nötige Maßnahme zu schwierig wird (Evakuierungsplan), brechen die Profis und Politiker einfach ab.

    Für das alte AKW ISAR 1 (unweit von Regensburg) fehlen noch viele Monate Castoren, weil die nicht rechtzeitig bestellt wurden. Über das Risiko beschwert sich sogar Tschechien. Hat die taz darüber berichtet?

  • R
    reclaim

    @DirkJ: Ich nehme an, Sie sind auch fest davon überzeugt, dass Tschernobyl zu keinen Opfern geführt hat?

  • RG
    Reinhard Gottorf

    Ja, ein lesenswerter Artikel. Aber ein kleiner Hinweis auf eine Dokumentation von gestern 20.15h bei ARTE hätte dem Artikel und der TAZ nicht schlecht zu Gesicht gestanden. http://videos.arte.tv/de/videos/fukushima_die_wahrheit_hinter_dem_super_gau-6439122.html.

    Wer diese Dokumentation aufmerksam verfolgt, der wird vielleicht eher begreifen, warum dieses Thema nur noch sehr selten auf der Themenliste erscheint. Der oder die wird auch begreifen, warum in den Sendungen des ÖR Fernsehens, die Talk-Schau nennen, solche Gestalten wie Wolfgang Clement immer wieder ihr Gesülze unter die Leute bringen. Ach wäre es schön, wenn solche Leute wie der mal für 14 Tage auf dem Gelände des havarierten Atommeilers über die Gefahrlosigkeit der Atomenergienutzung täglich 5 Stund im Freien blubbern müsste.

  • DJ
    Dirk J.

    Ich hoffe ja immer noch, dass die taz irgendwann mal der schlimmste Katastrophe - den zehntausenden Toten durch den Tsunami - ein paar Sätze widmet. Aber das ist wahrscheinlich zu viel verlangt. Frontal 21 hat jedenfalls gestern zwar von der "eigentlich schlimmen Katastrophe" gesprochen und meinte damit lediglich Fukushima (mit bisher 0 Opfern). Wird bei den Japanern, die Angehörige oder Freunde verloren haben, bestimmt großartig ankommen.

  • S
    saalbert

    "Ein Jahr nach Fukushima dokumentiert ein Bericht das Versagen von Atomindustrie und Politk." - Aha, "Politk". Nur ein paar Buchstaben, die für einen Vorspann gebraucht werden, aber...