Atomausstieg, nein danke? : Eine Falle für die Grünen
Es gibt Grüne, die lieber die Koalition platzen lassen würden, als einer Verlängerung der AKW-Laufzeiten zuzustimmen. Was ist dümmer?
Von UDO KNAPP
taz FUTURZWEI, 02.08.22 | Es gehört seit Jahren zu den beliebtesten journalistischen Gepflogenheiten, politische und gesellschaftliche Fragen in die Grünen hineinzuverlagern und immer wieder aufs Neue die Spaltung der Partei zu beschwören – wegen angeblichen Verrats ihrer „Ideale“. Das ist meist Humbug, aber im Falle der Atomkraft muss man sich das genauer anschauen, denn der Kampf dagegen ist wirklich identitär für die Gründung und die Geschichte der Partei. Die interne Diskussion über eine Laufzeitverlängerung der letzten drei deutschen Atomkraftwerke erinnere „an alte Realo- und Fundi-Debatten der Grünen“, schrieb tagesschau.de. Die Frage, auf die das medial zugespitzt wird: Augen zu und durch – oder die Koalition aufkündigen?
Schauen wir uns erstmal die Realität an. Der Weiterbetrieb der letzten drei Atomkraftwerke würde den Erdgasverbrauch in der Bundesrepublik um rund 1 Prozent senken. Eine Versorgungslücke beim Strom im nächsten Winter wird es nach allen bisher vorliegenden Gutachten nicht geben. Ein großer Teil des Atomstromes der letzten Drei – 18 Milliarden Kilowattstunden – wird nach Frankreich exportiert. Dort liefern die Hälfte der 56 AKW wegen technischer Probleme keinen Strom mehr, zum Teil schon seit mehreren Jahren.
Sicherheitstechnisch könnten die Drei ihren Betrieb nur fortsetzen, wenn die gesetzlichen Überprüfungen bei laufendem Betrieb durchgeführt würden, verbunden mit unkalkulierbaren Risiken für die Betreiber und die Bürger.
Beim Weiterbetrieb würde kein neuer Atommüll entstehen, wenn nur die im Augenblick genutzten Brennstäbe aufgebraucht würden. Ein Einkauf neuer Brennstäbe, etwa in Russland, ist unkalkulierbar und wegen der Preisentwicklung unwirtschaftlich. Eine juristische Grundlage für den Weiterbetrieb müsste durch eine Novelle des Ausstiegsgesetzes (13. Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes) in diesem Jahr erst noch geschaffen werden, was bei dem Streitpotential in der Sache wenig realistisch ist. Die Bundesregierung müsste Garantien für Zusatz- und Ausfallkosten der Betreiber der letzten Drei beim Weiterbetrieb übernehmen, denn die Konzerne haben bisher nur den Ausstieg in ihren Bilanzen eingepreist.
All das spricht gegen eine Laufzeitverlängerung.
Warum inszenieren CDU, FDP und große Teile der SPD dennoch eine Kampagne für den Weiterbetrieb der letzten drei Atomkraftwerke?
Die Grünen haben die Energiewende auf den Weg gebracht
Kanzlerin Merkel hatte nach Fukushima 2011 persönlich den Atomausstieg gegen ihre eigenen Leute durchgesetzt. Ein SPD-Kanzler hätte diesen Mut niemals aufgebracht. Die Kanzlerin hat mit ihrer Entscheidung der zentralen Idee der Grünen einen unerwarteten Durchbruch verschafft, dass nämlich der Raubbau an den Existenzgrundlagen der Zivilisation abgebrochen und der ökologische Umbau der Industriegesellschaft auf den Weg gebracht werden muss.
Wyhl, Brokdorf und Gorleben, der Widerstand gegen die Nutzung der Atomkraft, haben der Legitimität grüner Ziele so viel Zustimmung eingebracht, dass ihr weiterer Aufstieg nicht mehr aufzuhalten war. Ohne den Anti-AKW-Kampf hätte es niemals Mehrheiten für Merkels Ausstieg gegeben, gäbe es heute keinen Ministerpräsidenten Kretschmann und die vielen anderen Regierungsbeteiligungen auch nicht. Es ist die historische Leistung Jürgen Trittins und seiner Leute im Umweltministerium (1998 bis 2005), dass sie die Energiewende mit Gesetzen und kluger, realpolitischer Verwaltungskunst unumkehrbar auf den Weg gebracht haben. Ohne das Erneuerbare-Energien-Gesetz, die Windräder, den Ausbau der Photovoltaik und anderer regenerativer Energieträger gäbe es heute zur Gasabhängigkeit von Russland, deren Herstellung die Grünen allerdings mitgetragen und mit zu verantworten haben, keine realistisch umsetzbare Alternative.
Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck hat dieser Alternative mit einem – durch den Ukraine-Krieg noch zusätzlich legitimierten – Gesetzespaket zum Ausstieg aus allen fossilen Energie- und Produktionsstrukturen umsetzbare Perspektiven verschafft. Wie einst Trittin den ersten Schritt mit mehrheitsfähigen Gesetzen und kreativ eingesetzten Verwaltungsvorschriften gegangen ist, vollzieht jetzt Habeck den nächsten notwendigen Schritt: die Energieversorgung komplett auf regenerative Energieträger umzustellen.
Die Zustimmung zu Habecks Programm in der Wirtschaft ist groß. Jetzt wird daran gearbeitet, diesen Prozess mit einem realpolitisch sicheren, gesetzlich verbrieften Rahmen abzusichern. Auf diesem Weg wird es Zumutungen für alle Teile der Gesellschaft geben, die durch Unterstützung des Freiheitskampfes der Ukraine und Putins Einsatz des russischen Gases als Kriegswaffe noch verstärkt werden.
CDU, FDP und große Teile der SPD versuchen die Ängste vieler Bürger vor diesen Zumutungen zu benutzen, um die Grünen aus ihrer führenden Rolle in der Politik der Republik zu vertreiben. Ihr Mittel dazu ist die Forderung nach einer Verlängerung der Laufzeit der letzten drei Atomkraftwerke. Sie unterstellen den Grünen ökologisch-ideologische Weltbeglückungsphantasien, für den Fall, dass sie sich verweigern.
Das Rufen nach einer Laufzeitverlängerung ist eine Falle
Das Rufen nach einer Laufzeitverlängerung, genau besehen meint das die Rücknahme des Atomausstieges, ist eine Falle. Die Grünen sollen dazu gezwungen werden, ihre Wurzeln zu verraten, wenn sie an der Regierung bleiben wollen.
Merz, Scholz und Lindner wissen sehr genau, dass sie mit ihrer Forderung zum Weiterbetreiben der letzten Drei die Grünen in eine innerparteiliche Zerreißprobe zwingen. Denn es gibt tatsächlich Grüne, die lieber die Koalition platzen lassen würden, als durch eine Zustimmung zur Verlängerung der Laufzeiten das grüne Bekenntnis zum Atomausstieg zu beschädigen.
Es gibt aber gute Gründe für die Grünen, den Schaden einer bedingten Zustimmung zu einer Laufzeitverlängerung wegen eines Glaubwürdigkeitsverlustes abzuwägen mit den Chancen, den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft in der Ampel materiell voranzubringen.
Die Laufzeitverlängerung der letzten Drei wäre eine bewusste Entscheidung gegen valide Tatsachen. Sie ist dumm, weil sie bei der Bewältigung der Gas-Krise nicht hilft und die Zumutungen beim notwendigen Gassparen nicht abmildern kann. Aber zuzulassen, dass mit dieser Dummheit von Merz & Company das offene Fenster ins postfossile Zeitalter zugeworfen wird, nur um sauber zu den eigenen Grundsätzen zu stehen, ist genauso dumm.
Die Grünen wären gut beraten, wenn mit weiteren Stresstests der Unsinn einer Laufzeitverlängerung immer wieder belegt würde. Wenn es zur Vermeidung eines Koalitionsbruches nicht anders ginge, müsste eine Laufzeitverlängerung so eingegrenzt werden, dass sie den Ausstieg nicht prinzipiell aufhebt, sondern nur kurz verschiebt. SPD und FDP könnten so sogar dazu gezwungen sein, trotz erpresster Laufzeitverlängerung Habecks Umstiegs-Plan ins nachfossile Zeitalter weiter mitzutragen. Wenn sie aber Habecks Politik dann dennoch nicht mittragen wollen, dann müssten sie schon selbst die Ampel aufkündigen. In einem solchen Fall würde sich die Tür ins Kanzleramt für Robert Habeck weit öffnen.
UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für taz FUTURZWEI.