Armut in Washington: Hunger im Schatten des Kapitols

Wenige Meter von den Parlamentsgebäuden Washingtons entfernt liegen die ärmsten Viertel der US-amerikanischen Hauptstadt. Viele Kinder dort sind sich selbst überlassen.

Wenige Meter von den Parlamentsgebäuden Washingtons entfernt liegen die ärmsten Viertel der Hauptstadt. Bild: dpa

Washington taz Schüsse fürchtet Diamante nicht so wie Hunger. "Ich höre sie oft nachts, wenn ich im Bett liege", sagt der Elfjährige. "Die Gangs wollen uns bloß Angst machen, aber Hunger, der tut weh." Diamante weiß wovon er spricht, denn der Afro-Amerikaner gehört zu den ärmsten Kindern der Hauptstadt des reichsten Landes der Welt. Im Südosten von Washington wartet er mit einer tobenden Horde auf einen orangenen Schulbus. Keine Schule schickt ihn, sondern das Projekt "Horton's Kids". Eine von vielen Privatinitiativen, die sich um die Kinder im Schatten des Kapitols kümmern: Jedes dritte bis vierte von ihnen lebt offiziell in Armut.

In Bezirk 8 von Anacostia ist es besonders schlimm. So heißt Diamantes Heimat, die zu 90 Prozent von Schwarzen bewohnt wird und in Reiseführern allenfalls als No-Go-Area für Weiße erwähnt wird. Jugendgangs treiben die Mordrate in die Höhe. Vernagelte Fenster zeugen von Gewalt. Nur jeder zweite hat einen Job, ein Drittel ist ohne Schulabschluss. Zwei von drei Kindern in den braunen Backsteinblocks wachsen ohne Vater auf. "Manchmal kann man Spuren der nächtlichen Kämpfe auf den Straßen sehen", sagt Brenda Chamberlain, Managerin von "Horton's Kids", das rund 140 Kinder unter seinen Fittichen hat. "Scherben, Blut... - Wir haben schon viele traurige Stories aus den Familien unserer Kids gehört." sagt sie. "Auch Kinder haben wir durch Gewalt verloren. Die Kleinen sehen hier vieles, was nicht für Kinderaugen bestimmt ist."

Mehrmals in der Woche zeigen ihnen die Helfer von Horton's Kids mit Zustimmung ihrer Eltern, dass es auch bessere Seiten des Lebens gibt. Und zwar auf der anderen Seite des Anacostia-Flusses. Mehrmals in der Woche ist der Schulbus für diese Kinder das Vehikel, um an das zu kommen, was sie nach Ansicht von Helferin Lindsy Pietroski am nötigsten brauchen: "Zuwendung, Nahrung und Bildung. Nicht nur, dass hier fast keine Familie mehr als 10.000 (umgerechnet rund 7000 Euro) im Jahr verdient, sind viele Eltern einfach damit überfordert, ihren Kindern ein Essen zu kochen oder sie sinnvoll zu beschäftigen."

Viele absorbiere der Überlebenskampf, andere seien auf Drogen oder einfach fort. Fort etwa wie Stars Vater, der drei Kinder, einen Säugling und eine völlig überforderte Mutter zurückließ. Star ist elf, sieht aber aus wie sechs. Das zierliche, weinerliche Mädchen mit den Dreadlocks erkämpft sich im Bus den Schoß einer Begleiterin.

Zehn Minuten später rutscht Star über den Boden eines Nebengebäudes des US-Abgeordnetenhauses, das die Initiative abends benutzen darf. Star legt mit einer Nachhilfelehrerin Zahlenkärtchen. Im Sitzungssaal des Agrarausschusses lernen ältere Schüler gerade Algebra. Ein skurriles Bild: Säle und Flure des alten Parlamets-Nebengebäudes sind von lernenden Kindern belagert. Jedes mit seinem eigenen Tutor. Die freiwilligen Helfer kommen teils seit Jahren regelmäßig, um ein und dasselbe Kind möglichst bis zum Abschluss zu begleiten. Tagsüber arbeiten sie in diesen Regierungsbüros, sind Feuerwehrleute, Betriebswirte, Hausfrauen oder Studenten. "Unser Ziel ist es, möglichst vielen Kindern, zum Schulabschluss zu helfen", sagt Chamberlain, die stolz darauf ist, dass die ersten Horton's Kids inzwischen studiert haben und nun selber Helfer sind. "Die Schulen in Anacostia lassen zu wünschen übrig", sagt sie. "Wir versuchen, die Kinder fit zu machen, damit sie eine Chance auf bessere haben." Über jeden Fortschritt wird Buch geführt: Die Tutoren verfassen akribische Berichte und Lernpläne. "Wenn sie merken, dass ein Kind ernsthafte Probleme hat, gehen wir zu den Eltern, um zu vermitteln", erklärt die Managerin des Projekts, das in diesem Jahr 20 geworden ist.

Ein kleines Mädchen mit bunten Zopfspangen zupft an ihrem Ärmel: "Ich will auch zur Untersuchung", fordert es und deutet auf den Jungen gegenüber, der stolz ein knallorangenes Brillengestell zur Schau trägt. Eine Augenärztin versorgt die Kids ebenso freiwillig wie Zahn- und Kinderärzte. "Die schlechte Ernährung macht viele Kinder krank", erklärt Pietroski und sagt, dass über 70 Prozent der Menschen in Anacostia übergewichtig oder gar fettleibig sind und viele Zahn- oder Augenprobleme haben. "Wir versuchen, diese Defizite so gut wie möglich zu beheben, auch mit Lebensmittel- und Kleidungshilfen," erklärt sie, während gegenüber gerade ein Abgeordneter aus seinem Büro kommt und über einen Malblock klettern muss. Brenda Chamberlain sieht auf die Uhr. Gleich ist es Zeit, den Rückweg über den Fluss anzutreten. Nicht nur, weil Schlafenszeit ist. "Die Polizei rät uns, die Kids vor neun von der Straße zu haben - aus Sicherheitsgründen."

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