Armenviertel in Caracas: Zukunft in Selbstverwaltung
Wachsende Elendsviertel, besetzte Häuser: Die armen Bewohner in Venezuelas Hauptstadt setzen trotz mieser Lebensumstände alles daran, ihr Schicksal selbst zu bestimmen.
CARACAS taz | Caracas, unweit der U-Bahn-Station California. Hier im Osten der venezolanischen Hauptstadt treffen Apartmentsiedlungen und Armenviertel aufeinander. Oberhalb der vom Verkehrschaos gebeutelten Avenida Francisco de Miranda stehen verschachtelte Ziegelbauten, unterhalb mit Elektrozäunen gesicherte Wohnhochhäuser.
Dazwischen liegt eine unscheinbare Brachfläche, drei Hektar groß. Zwischen Schilfgestrüpp und einigen Bäumen liegt ein altes Haus, das früher einmal das Wirtschaftsgebäude einer Finca war. Über dem baufälligen Dach weht eine rote Fahne.
In einem behelfsmäßigen Versammlungsraum sind 150 Menschen zusammengekommen. Es sind Besetzer des alten Hauses und Bewohner der benachbarten Barrios. Auf DIN-A1-Bögen sind die Themen notiert, über die sie in Gruppen diskutieren wollen: Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Umweltfragen, Verkehrsanbindung. Mehr als drei Viertel sind Frauen, die meisten von ihnen älter als 40.
Metropole: Mehr als sechs Millionen Menschen leben in Caracas. Wie viele es genau sind, weiß niemand. Seit Jahrzehnten ziehen viele Menschen vom Land in die Hauptstadt und siedeln zunächst informell in den Barrios, den Armenvierteln.
Lebenskosten: Der Mindestlohn in Venezuela liegt bei rund 1.500 Bolívares (270 Euro). Leben kann davon aber keiner, Mieten und vor allem Importgüter sind sehr teuer. Die Inflationsrate lag in den vergangenen Jahren bei bis zu 30 Prozent.
Kriminalität: Laut der Organisation Observatorio Venezolano de Violencia fielen im Jahr 2011 in Venezuela mehr als 19.000 Menschen einem Gewaltverbrechen zum Opfer - so viele wie nie zuvor. In der Hauptstadt liegen die Mordzahlen über dem nationalen Durchschitt, somit ist Caracas eine der gewalttätigsten Städte der Welt.
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Raul Zelik ist Professor für Politik an der Nationaluniversität Kolumbiens in Medellín
Yaneth Betancur, eine der Sprecherinnen, ist erst 31. Die vier Monate alte Tochter hat sie ihrem Mann in die Arme gelegt und geht nun zwischen den Gruppen umher, um sich ein Bild von den Diskussionen zu machen. "Wir fangen mit einer Diagnose an", erklärt sie. "Unser Ziel ist, ein sozialistisches Viertel aufzubauen, solidarisch und selbstverwaltet. Unser Zeitplan sieht vor, dass wir sechs Monate diskutieren und Gemeinschaftsarbeiten erledigen, bevor wir mit den Architekten die Baupläne erarbeiten."
Die Besetzer sind Teil einer Bewegung, die sich Campamentos de Pioneros nennt, Pionierlager. Der Name, die rote Fahne und das große Porträt von Venezuelas Staatschef Hugo Chávez am Eingang des Wirtschaftsgebäudes erinnern an stalinistische Zeiten. Doch so einfach ist es nicht. Die Bewegung der Pioneros ist keine gleichgeschaltete Massenorganisation. Sie ist unter den Bewohnern von Armenvierteln entstanden, deren Wohnverhältnisse auch nach 13 Jahren Chávez-Regierung menschenunwürdig sind und die gemeinschaftlich nach einer Lösung suchen.
Geschäfte selbst verwalten
"Unser Ziel ist nicht", erklärt Yaneth Betancur, "dass uns die Regierung Sozialbauten hinstellt. Wir wollen neue Formen des Zusammenlebens aufbauen. Unser Viertel soll autofrei sein, damit die Kinder draußen rumlaufen können. Und wir wollen Einrichtungen und Geschäfte selbstverwaltet und gemeinschaftlich betreiben."
Etwa 60 derartige Besetzungen gebe es zurzeit in Venezuela, erzählt die Frau, die meisten im Großraum Caracas. Da die Grundstücke meist in kommunalem Besitz seien, müsse man je nach politischen Verhältnissen vor Ort auch mit Räumungen rechnen.
Der Staat stellt den Raum für selbstbestimmte Projekte also nicht einfach zur Verfügung. Die Besonderheit in Venezuela ist vielmehr, dass die Regierung die Basisbewegung - mal mehr, mal weniger - als Akteur anerkennt. 40 Millionen Bolívares, nach offiziellem Umtauschkurs etwa 7 Millionen Euro, hat das Projekt an der U-Bahn-Station California für den Bau der Siedlung bewilligt bekommen.
Wenn man nach fünf Jahren zum ersten Mal wieder nach Caracas kommt, fällt einem sofort auf, was alles nicht funktioniert. Auf dem Flughafen steht ein völlig überalterter Maschinenpark, denn aus Furcht vor den Verstaatlichungen investieren die privaten Linien nicht mehr in neue Flugzeuge. In den Supermärkten werden Milch und Käse immer wieder knapp, weil die Preise für Grundnahrungsmittel festgelegt sind und die großen Lebensmittelkonzerne ihre Waren lieber horten oder auf dem Schwarzmarkt verkaufen.
Korruption ist Alltag, und nichts deutet darauf hin, dass sich hieran etwas ändern könnte. Präsident Chávez würde einen unberechenbaren Machtkampf mit Teilen von Armee und Staatsbürokratie riskieren, wenn er der Selbstbereicherung, die im Erdölstaat lange Tradition hat, einen Riegel vorschöbe. Und schließlich ist Wohnraum in Caracas sehr teuer: Eine 70-Quadratmeter-Wohnung ist selbst in Vierteln der unteren Mittelschicht für weniger als 550 Euro kaum zu bekommen.
Aber obwohl die Probleme auf der Hand liegen, ist vieles dann doch erstaunlich offen. Hernán García - ein junger Mann, der mit seinem Kinnbart und den langen Haaren aussieht wie der klassische Occupy-Wall-Street-Aktivist - ist Dozent an der neu gegründeten "Experimentaluniversität für Sicherheit". An der Hochschule wird die neue "Nationale Bolivarianische Polizei" ausgebildet, ein Polizeikörper, der sich durch Bürgernähe, soziale Verantwortung und Unkorrumpierbarkeit auszeichnen soll. García unterrichtet das Fach Politik und Gesellschaft mit Schwerpunkt auf sozialen und Menschenrechten. Die meisten Lehrkräfte der Polizeiakademie stammten, so erzählt er, aus sozialen Bewegungen.
Angstfreie Diskussion
Neben dieser Arbeit engagiert sich García in einer weiteren Stadtteilbewegung, dem Movimiento de Pobladores. Als Aktivist hilft er, Diskussionen zu strukturieren, oder referiert über die Ziele, die sich die Bewegung gesetzt hat: Selbstverwaltung, Kooperation, politische Organisierung der Unterschichten.
An diesem Tag nimmt García an einer Versammlung von Concierges teil. Wenn man aus einem anderen südamerikanischen Land kommt, fällt sofort auf, wie angstfrei die einfachen Venezolaner diskutieren. Auch an diesem Treffen nehmen mehr als 100 Personen teil, auch hier sind vier Fünftel der Anwesenden Frauen.
"Die Concierges", erzählt García, "haben lange unter sklavenähnlichen Bedingungen gearbeitet. Sie wohnen im Erdgeschoss der teuren Apartment-Blocks und mussten 14 Stunden am Tag ansprechbar sein. Wenn sie das Haus verlassen wollten, mussten sie jedes Mal eine Genehmigung einholen." Die neue Organisation, die vor zwei Jahren entstanden sei und als wöchentliche Vollversammlung funktioniere, habe erstaunlich viel erreicht. "Wir hatten vor einiger Zeit ein Treffen mit Chávez und dem Vizepräsidenten. Danach hat das Parlament ein neues Arbeitsschutzgesetz verabschiedet, das die Situation für die Hausangestellten radikal verbessert."
Auf die Frage, ob er seine Situation nicht als paradox empfinde - als antiautoritärer Intellektueller einen Polizeiapparat ausbilden, als Basisbewegung auf einen Präsidenten wie Chávez setzen -, antwortet Hernan García erst mit Ja, dann mit Nein. Dass er als Polizeiausbilder arbeite, sei vor allem am Anfang schon sehr komisch gewesen, aber dass sie den Präsidenten unterstützten, fände er völlig logisch. "Wir sind zwar keine Anhänger der Regierungspartei PSUV, und wir wissen auch, dass wir vom Staat nicht viel zu erwarten haben. Aber wir sind trotzdem für den Präsidenten." Und völlig ironiefrei schiebt er hinterher: "Unseren Kommandanten."
Auch am Stadtrand von Caracas bietet sich ein uneinheitliches Bild. "In Venezuela hat sich in den letzten vier, fünf Jahren nicht viel getan", behauptet Francisco Pérez, Bewohner von La Vega, einem Armenviertel im Südwesten Caracas'. Die vor sechs Jahren auf Anregung der Regierung gegründeten Genossenschaften seien längst wieder zerfallen, das Land hänge nach wie vor von Lebensmittelimporten ab, die Kriminalität sei zwar nicht so erdrückend, wie die bürgerlichen Medien behaupteten, aber trotzdem gravierend.
Gewählte Mafia
Doch schon nach wenigen Schritten wird klar, dass eben doch nicht alles wie immer ist. Am Straßenrand stehen neue weiße Transport-Jeeps, die die Regierung, wie Pérez erklärt, als Ergänzung zum öffentlichen Nahverkehrsnetz angeschafft habe. Während die U-Bahn mit 10 Cent pro Fahrt extrem preiswert ist, müssen die an den Hängen von Caracas lebenden Bewohner der Armenviertel für die Anschlussstrecken bei privaten Transportunternehmen oft das Vierfache bezahlen. Die bergtauglichen, für zehn Fahrgäste angelegten Jeeps sollen daher für Abhilfe sorgen. Wegen der staatlichen Ineffizienz hat die Regierung die Jeeps jedoch nicht einer Behörde zugeteilt. "Sie werden von den Consejos Comunales verwaltet", sagt Pérez, den Nachbarschaftsorganisationen. "Das ist zwar auch eine Mafia, aber weil die Consejos regelmäßig gewählt werden, gibt es eine gewisse Kontrolle."
Es ist nicht das Einzige, was sich in La Vega verändert hat. Bürgersteige und Treppen sind neu angelegt worden, die Müllentsorgung klappt sichtlich besser, und die von der Chávez-Regierung geschaffenen Sozialeinrichtungen haben Bestand: die Gesundheitsposten des Barrio-Adentro-Programms beispielsweise oder die staatlichen Internetcafés. Und auch die Lebensmittelprogramme funktionieren weiter - trotz aller Kritik. Es gibt ein dichtes Netz von staatlichen Geschäften, in denen Lebensmittel zu Niedrigpreisen verkauft werden, und mindestens einmal die Woche fahren Lkws der Programme in die Barrios, um Fleisch und Milch zu verteilen. Und noch etwas fällt auf, wenn man aus dem Nachbarland Kolumbien kommt: In Venezuela sieht man kaum noch Bettler auf den Straßen.
Auf die unvermeidliche Frage nach der Nachhaltigkeit - Venezuela hängt am Erdöl-Tropf, die Sozialpolitik wird ausschließlich mit Petrodollars finanziert - antwortet Pérez mit einem schelmischen Lächeln: Nein, nachhaltig sei das alles nicht. Aber man müsse gerechterweise auch fragen, was vom Kapitalismus übrig bleibe, wenn das Erdöl wirklich einmal versiegt. "Und Venezuelas Vorkommen reichen immerhin noch für 200 Jahre."
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