: Arme in die Vorhochhalte
Am Nadelöhr von Ludwigsfelde: Was sich Falko Hennig und seine Freunde Dominik Kubowski und Maja Jetke so an einer Autobahnböschung erzählten
Zur Schule ging es die Betonplattenstraße entlang, den Sandweg an der Kirche vorbei, dann stand auf einem Damm die Autobahn im Weg. Zwei Tunnel führten durch diese Aufschüttung, einer für die Hauptstraße, der andere daneben für die Fußgänger und Radfahrer. Sie waren so was wie das Nadelöhr von Ludwigsfelde, diese beiden Tunnel. Deshalb bildete sich noch lange kein Stau, aber manchmal mussten Autos an einer der Ampeln doch einige Minuten warten.
In dem Fußgängertunnel begannen wir Kinder immer, wie von einer geheimen Macht gezwungen, zu schreien, zu kreischen, mit den Händen zu klatschen. Von den glasierten Fliesen an Decke und Wänden kurz gebrochen schallten die Geräusche zurück. Dann, auf der anderen Seite der Autobahn, ging es einen langen Weg parallel zur Fahrbahn weiter, noch durch den Hof der Garagengemeinschaft. Hinter einem Zaun war schon das Schulgelände mit der großen doppel-T-förmigen Schule.
„Diesen Weg gehst du immer!“, hatten mir meine Eltern eingeschärft, „niemals über die Autobahn!“ Das wäre eine Abkürzung gewesen, ich hatte genickt, auch bei den anderen Anweisungen, vor jeder Straße stehen zu bleiben, immer nach links, nach rechts, nochmal nach links zu kucken. Niemals einfach auf die Straße laufen, alles klar. Die Geräusche von der Autobahn, gleichmäßig rauschte sie von früh bis spät. Selbst in den Klassenräumen konnten wir es hören und vom Sportplatz, der war noch näher dran.
„Kinder, wir machen jetzt Sternfahrt!“, rief die Lehrerin, „Alle in den Hockstütz, die Knie geschlossen! Jetzt mit den Fäusten auf den Boden trommeln!“ Sie machte es vor und wir alle taten es ihr nach. „Drrr! heult die Rakete auf. Richtet euch langsam auf, dabei in die Hände klatschen!“ Sie stand auf und klatschte in die Hände. „Sie erhebt sich in die Luft und schießt ins Weltall hinaus. In den Ballenstand heben und strecken! Die Arme in die Vorhochhalte schwingen! Die Handflächen aneinander! Seid gegrüßt, Sterne!“
Die Schulmonate wurden zu Schuljahren, vor oder nach der Schulspeisung trafen wir Jungs uns an der Autobahn. Dominik Kubowski zündete auf dem Weg eine Bonbontüte an, der knisternde Kunststoff verbrannte rußend, kleine flammende Tropfen fielen herunter und brannten auf dem Weg weiter, „Bomben auf Moskau“, sagte Dominik. Wir saßen im hohen Gras an der Böschung, meist nur Jungs, manchmal war noch Maja Jetke dabei. Ein Lehrer, erzählte Jan Tietze, sei entlassen worden, weil er gesagt hätte: Scheiß Nazis, erst bauen sie die Autobahn und dann machen sie 40 Jahre lang nichts dran.
Das gleichmäßige Rauschen war hier, direkt an den Betonplatten der Autobahn, nicht mehr zu hören. Die Autos erzeugten verzerrte Einzeltöne: Jeeeeeonnnng! Jeeeeeeeouuuung! Eeeeeeeoooouuuuu! Manchmal vergingen Minuten zwischen einzelnen Fahrzeugen, dann wieder folgten sie so dicht hintereinander, dass es ganz unmöglich schien, die Autobahn zu überqueren. „Russisch Roulett,“ sagte Dominik Kubowski, „da sind schon welche umgekommen, aus der Achten. Da wird rückwärts gezählt und bei null muss, wer dran ist, über die Autobahn rennen. Wenn er Glück hat, schafft er es.“ Schweigend saßen wir da. Wenn es kalt war, hieß es: „Es ist kalt in Deutschland!“ Das war immer irgendwie provokant, Deutschland gab es ja nicht. Was sind zwei Polizisten auf einer Rakete? Ein Dumm-dumm-Geschoss. Eeeeeeeoooouuuuu! Jeeeeeeeouuuung! Jeeeeeonnnng! FALKO HENNIG
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