"Arisierungen" in Bremen: Die Häuser der Ermordeten
Vor dem Steintor 155 liegt ein Stolperstein für die in Auschwitz ermordete Selma Beverstein. Wer weiter forscht, erfährt: Das Haus ist, wie viele andere, „arisiert“ worden.
BREMEN taz | Die „Arisierung“ jüdischen Haus- und Grundbesitzes gehört noch immer zu den weitgehend weißen Flecken der Bremer Geschichte. Eine Schneise ins Vergessen schnitt vor elf Jahren eine bei der Edition Temmen veröffentlichte Magisterarbeit von Hanno Balz. Die aber ist längst vergriffen, erlebte leider keine weitere Auflage und beschränkt sich zudem auf privaten Grundbesitz. Die "Arisierung" jüdischer Geschäfte und Geschäfts-Immobilien ist nach wie vor unerforscht.
Am heutigen Montag hält Balz, der mittlerweile in den USA arbeitet, einen Vortrag in Bremen, in dem er an seine damals zusammengetragenen Forschungsergebnisse erinnert. Eines immerhin hat sich in Bremen seither deutlich verändert: Zahlreiche Stolpersteine, eingelassen in die Gehwege, erinnern an die letzten frei gewählten Wohnorte von Opfern des NS-Regimes. Und wenn dieses Stolpern weiteres Interesse weckt, taucht das Thema „Arisierung“ an allen Ecken der Stadt wieder aus der Versenkung auf.
Der Stein für Selma Beverstein liegt Vor dem Steintor 155. Ein paar Ecken weiter wirbt „Blumen Timm“ in großen Leuchtbuchstaben mit seiner Standorttreue und Qualität „seit 1933“ – was allerdings nicht mit einer „Arisierung“, sondern mit historisch unsensibler Traditionshuberei zu tun hat.
Die "Arisierung" von jüdischem Haus- und Grundbesitz in Bremen ist Thema eines Vortrags, den Hanno Balz heute um 19 Uhr im "Haus des Reichs" (Raum 208) hält. Balz ist derzeit als Gastwissenschaftler an der John Hopkins University in Baltimore tätig. Balz' Vortrag ist sowohl Teil des Begleitprogramms der Ausstellung "Ausplündern und Verwalten" im Bremer Finanzamt (www.finanzen.bremen.de) als auch der umfangreichen Veranstaltungsreihe rund um den "Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus" am 27. Januar. Die Veranstaltungsreihe umfasst dieses Jahr rund 50 Vorträge und Führungen, von denen sich sehr viele intensiv mit der Regionalgeschichte auseinandersetzen (www.erinnernfuerdiezukunft.de). Am 27. Januar berichtet Ruth Bahar im Rathaus von ihren Großeltern, die in Theresienstadt - vor dem Weitertransport nach Auschwitz - für den Fall ihres Überlebens vereinbarten, in Bremen aufeinander zu warten. Dort heirateten sie 1947.
Selma Beverstein war ebenfalls Geschäftsfrau: Sie betrieb in ihrem Haus eine Putzmacherei und handelte mit Weißwaren. Auch ihr Nachbar zur Rechten war in der Textilbranche, allerdings in weit umfangreicherem Stil: Richard Holst führte ein großes Geschäft, seit 1929 war er zudem Rechnungsführer im Reichsbund des Textileinzelhandels. Bei der Bremer Handelskammer leitete er die Bezirksfachgruppe Bekleidung.
Holst war schon früh wachstumsorientiert und mietete 1925 die Geschäftsräume seiner Nachbarin Beverstein, die er baulich mit seinen bisherigen verbinden durfte. Diese Häuser hatten ohnehin eine gemeinsame Fassade, heute wirken sie wie ein einziges Gebäude. Peter Christoffersen, der regelmäßig für die Stolperstein-Setzungen recherchiert, hat herausgefunden, wie sich das damalige Mietverhältnis entwickelte: Seit 1933 kürzte Holst kontinuierlich die Miete, 1935 zahlte er nur noch ein Drittel der ursprünglich vereinbarten Summe. Am Tag nach dem Novemberpogrom von 1938 legte er Beverstein nahe, „uns Ihr Grundstück Vor dem Steintor 155 möglichst sofort gegen bar zu verkaufen“. Andernfalls drohe die ersatzlose Enteignung.
In seiner Funktion bei der Handelskammer hatte das Parteimitglied Holst mit „Arisierungen“ reiche Erfahrung, in seine Zuständigkeit fielen die Besitzerwechsel der großen Bekleidungshäuser in der Obernstraße. Holsts persönliches Vermögen, so hat es Balz in den im Staatsarchiv liegenden Entnazifizierungs-Akten recherchiert, hatte sich 1938 bereits verdoppelt. Und bis 1943 verdreifacht.
Beverstein, deren geschiedener Gatte sich kurz zuvor das Leben genommen hatte, gab dem Druck nach. 1938 verkaufte sie an Holst. Der Erlös – unter dem Taxierungswert liegend, aber doch noch 40.000 Reichsmark – landete auf einem Sperrkonto.
Holst, auf diese Weise nun selbst zum Vermieter avanciert, setzte alles daran, der Schwester seiner Vorbesitzerin das Leben schwer zu machen: Hedwig Lohmann durfte zu Holsts großem Ärger weiterhin im Haus wohnen, weil sie durch eine „arische“ Ehe geschützt war. Nach einer gescheiterten Räumungsklage beschimpfte er sie in ihrer Wohnung auf das Wüsteste: „Sie sollen krepieren, an die Wand müssten Sie gestellt werden“, schrie er sie laut Zeugenaussagen an, und: „Halten Sie Ihre Fresse, Sie altes freches Judenweib.“ Der Terror ging weiter, indem Holst einen Judenstern an Lohmanns Namensschild anbrachte. Schließlich ist er, wie er erklärte, „Judengegner nicht nur aus dem allgemeinen Empfinden heraus, das heute jedem Deutschen Volksgenossen eigen ist, sondern darüber hinaus ganz bewusst aus politischer Überzeugung“.
Kurz nach der Stigmatisierung per Judenstern zog das Ehepaar Lohmann aus, Hedwig Lohmann kam noch im Februar 1945 ins Konzentrationslager Theresienstadt. Zu diesem Zeitpunkt war ihre Schwester Selma Beverstein, die vormalige Hausbesitzerin, von Theresienstadt aus bereits nach Auschwitz deportiert worden, wo sie ermordet wurde.
Im Bremer Stadtgebiet ist bislang von 248 Häusern bekannt, dass sie in der NS-Zeit „arisiert“ wurden. Doch auch bei diesen sind die genaueren Umstände nur zum Teil erforscht. Eine Analyse der strukturellen Rolle, die die Bremer Handelskammer bei den „Arisierungen“ der jüdischen Geschäfte spielte, steht ebenfalls noch aus.
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