Betäubende Kamera und die Röte des Rot

CANNES CANNES 8 Der Endspurt beim wichtigsten europäischen Filmfestival beginnt: Kandidaten für die Goldene Palme sind „Carol“ von Todd Haynes und „Nie Yinniang“ („The Assassin“) von Hou Hsiao-Hsien

Die Kostbarkeit klassischen Filmemachens unter den Bedingungen der digitalen Gegenwart: Hou Hsiao-Hsiens „Nie Yinniang“

Die Herrschaft des Über-Ichs ist eine der Willkür. Ständig erfindet es neue Gesetze, mit denen es das Ich überfordert, oft widersprechen sich die Vorgaben, sodass das Ich, selbst wenn es wollte, ihnen nicht folgen könnte.

So ähnlich ist es auch in Cannes. Zu den vielen wunderlichen Geschichten, die zu diesem Festival gehören wie die Stufen vorm Grand Théâtre Lumière, zählt die folgende, vom Branchenmagazin Screen International rapportierte. Als Todd Haynes’ Drama „Carol“ im Grand Théâtre Lumière Premiere feierte, wurde einigen älteren Frauen der Zutritt verwehrt, obwohl sie Einlasskarten hatten. Die Türsteher monierten, ihre mit Glassteinen besetzten, Ballerina-artigen Schuhe, verletzten den Dresscode.

Die Schauspielerin Emily Blunt, die im völlig verunglückten Wettbewerbsbeitrag „Sicario“ von Denis Villeneuve, die Hauptrolle spielt, twitterte daraufhin ihre Indignation hinaus in die Welt, andere, etwa Asif Kapadia, Regisseur einer Dokumentation über Amy Winehouse, pflichteten ihr bei, und das Festival ließ verlauten, dass es gar keine Regel gebe, die Absätze zur Pflicht mache. Ob sich das bis zu den Saaldienern herumsprechen wird?

Besonders ironisch an dieser Angelegenheit ist, dass es sich bei „Carol“ um ein in den 50er Jahren spielendes Drama handelt, in dem zwei Frauen etwas tun, was gegen Konvention und Gesetze verstößt: Sie verlieben sich. Da das Festival nicht reich an Filmen ist, die interessante Frauenfiguren entwickeln, bietet „Carol“ wohltuende Abwechslung.

Die titelgebende, elegante, wohlhabende Carol (Cate Blanchett) begegnet der Kaufhausangestellten Therese (Rooney Mara), die beiden essen Lunch, Carol lädt Therese zu sich nach Hause ein, zufällige Berührungen bekommen eine zweite Bedeutung, Blicke gehen hin und her, doch es dauert lange, bis das Begehren greifbarer wird. Carol lebt in Scheidung; ihr Mann nutzt, was als unmoralisches Verhalten gilt, um das alleinige Sorgerecht für die Tochter einzuklagen.

Haynes inszeniert dies mit umwerfenden Kamerafahrten und einem guten Blick dafür, wie sich Repression, die das lesbische Begehren umstellt, so weit in die Frauen hineinfrisst, dass sie wie betäubt agieren. Wenn man „Carol“ etwas zum Vorwurf machen kann, dann vielleicht, dass der Klassizismus, dem sich der Regisseur verschreibt, allzu makellos gerät.

In „Far From Heaven“ (2002) erzählte er eine Geschichte von unterdrücktem Begehren und lud sie zugleich metafiktional auf, als Reflexion auf das Genre des Melodramas. „Carol“ dagegen fehlt diese zweite Ebene.

Ein echte Kostbarkeit klassischen Filmemachens unter den Bedingungen der digitalen Gegenwart ist Hou Hsiao-Hsiens Wettbewerbsfilm „Nie Yinniang“ („The Assassin“). Auch darin geht es um eine Frau, die unvereinbaren Gesetzen gehorchen muss.

Der Film spielt im 9. Jahrhundert am Hof und in der Provinz Weibo, die abtrünnig zu werden droht. Die Hauptfigur Nie Yinniang (Shu Qi) ist Auftragsmörderin im Dienst des Hofs, kommt aber ursprünglich aus Weibo. Als ihr befohlen wird, den Gouverneur der Provinz zu töten, gerät sie in einen Konflikt, war sie diesem Mann doch in ihrer Jugend als Braut versprochen.

Hou Hsiao-Hsiens Mise en scène schlägt von den ersten, schwarz-weißen Bildern an in Bann. Nach diesem Vorspiel tritt die Farbe mit Aplomb in den Film – wo sonst sieht man ein solches Rot? Dazu kommen langsame Kamerabewegungen, eine virtuose Kombination von geschlossenen Räumen und sich weit öffnender Landschaft, das Einsetzen von Blickhindernissen wie Vorhängen, die der Wind vors Objektiv weht, dazu Kampfszenen, die von Aggression künden, aber zugleich knapp gehalten sind, niemals schielen sie auf den Effekt. Wenn es eine Goldene Palme für Eleganz gibt, hat Hou Hsiao-Hsien sie verdient. CRISTINA NORD