Woher sie kamen

REIMPORT Tobias Zielony hat Flüchtlinge in Berlin fotografiert und die Bilder in ihren Herkunftsländern publiziert. Seine Arbeit wird bei der Biennale von Venedig gezeigt

■ Die Ausstellung: Die 56. Biennale Venedig wurde am Donnerstag eröffnet und läuft bis zum 22. November 2015. Unter dem Titel „Alle Zukünfte dieser Welt“ versucht der Kurator der Hauptausstellung, der Nigerianer Okwui Enwezor, die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche der letzten Jahre durch die Globalisierung und ihre Spiegelung im Lokalen zu thematisieren.

■ Der Künstler: Tobias Zielony wurde 1973 in Wuppertal geboren. Er studierte Dokumentarfotografie und ist Professor für Künstlerische Fotografie an der Kunsthochschule für Medien Köln.

■ Die Pavillons: Auf der Biennale stellen sich 89 Länder in Pavillons vor. Kurator des Deutschen Pavillons ist der Leiter der Fotografischen Sammlung des Museums Folkwang, Florian Ebner.

VON ROMAN DECKERT
UND JULIA JOERIN

Am 23. Februar erschien die sudanesische Zeitung The Citizen mit der Schlagzeile „Occupy Berlin: Flüchtlinge aus dem Sudan kapern eine Kamera“. Ein paar Tage später brachte Al Ayaam die Story auf Arabisch: ein Fotoessay über die Migranten, die sich im Sommer 2014 neun Tage lang auf dem Dach der früheren Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin-Kreuzberg Hunderten Polizisten widersetzt hatten. Viele von ihnen stammten aus dem nordostafrikanischen Land.

Die Porträts hat der Fotokünstler Tobias Zielony für die „Fabrik“ produziert, die seit Donnerstag im Deutschen Pavillon der Biennale in Venedig in Betrieb ist. Zielony, Jahrgang 1973, hat sich schon in früheren Werken mit denen befasst, die als Verlierer des Kapitalismus gelten. Für die Hamburger Kunsthalle erstellte er 2014 eine Videoinstallation über die Flucht eines Sudanesen nach Lampedusa und erkannte, dass die Flüchtlinge ihr Dasein hier in den Herkunftsländern thematisieren wollten. Also fotografierte er sie und veröffentlichte die Bilder in Nigeria, Kamerun und dem Sudan: „Es ging mir darum, die klassische Richtung westlicher journalistischer Arbeitsweisen umzukehren.“ Unter dem Dach des Biennale-Pavillons zeigt er nun die migrierten Bilder. Das Projekt nennt er „The Citizen“, wie jene Zeitung, die die Bilder im Sudan zeigte. Es ist ihm Chiffre für die bürgerrechtliche Revolte in Kreuzberg – gegen Residenzpflicht und Arbeitsverbot und für politische Teilhabe.

Im kriegszerütteten Sudan, der seit 1989 vom international geächteten Islamisten Omar al-Baschir regiert wird, war die Veröffentlichung der Protestbilder ein Tabubruch. Nur eine Woche zuvor hatte der Geheimdienst ohne Angabe von Gründen die Auflagen von 14 Zeitungen konfisziert. Zielonys Doppelseite war umso gewagter, als er für den Begleittext den prominenten Kommunisten Magdi Elgizouli in seinem Freiburger Exil engagierte. Die Dialektik der Geschichte: Elgizoulis Vater begleitete 1975 Leni Riefenstahl auf ihrer letzten Expedition zu den Nuba und studierte an der Essener Folkwang-Schule Fotografie. Elgizouli wurde in Essen geboren, wo der Kurator des Biennale-Pavillons Florian Ebner die fotografische Sammlung des Museum Folkwang leitet.

Im Laufe des letzten Jahres hat Tobias Zielony Flüchtlingsaktivisten aus dem Sudan und anderen afrikanischen Ländern in Deutschland fotografiert. Sie protestieren gegen die über sie verhängte Residenzpflicht, das Verbot, Arbeit oder ein Studium aufzunehmen, und die rassistische Asylpolitik in Europa. Zielony hat afrikanische Autoren und Journalisten gebeten, über seine Fotografien nachzudenken und sie zu kommentieren. Für „The Citizen“ erörtert Dr. Magadi Elgizouli die Süd-Nord-Migration in einem erweiterten politischen und historischen Zusammenhang.

1.000 Exemplare von Elgizoulis Kapitalismuskritik aus The Citizen wurden von Sudans Hauptstadt Khartum nach Venedig verschifft. Elgizoulis Schrift gegen die Festung Europa, Ungleichheit und den Westen schont auch die Flüchtlinge nicht, deren Forderungen ihm zu wenig revolutionär sind. Dem hielt der aus Kamerun stammende Berliner Ausstellungsmacher Bonaventure Ndikung im Citizen entgegen, die angedrohte Selbsttötung der Flüchtlinge auf dem Dach der Hauptmann-Schule sei an sich ein revolutionärer Akt gewesen, mittels der (Selbst-)Inszenierung vor der westlichen Kamera. So hätten sich die Machtverhältnisse für einen Moment umgekehrt.

Bei sudanesischen Lesern stieß die Debatte auf Applaus. Stellvertretend für viele junge Stimmen zeigte sich eine populäre Bloggerin schockiert: „Diese Menschen sind geflüchtet, weil sie hier unterdrückt wurden, doch selbst im reichen Deutschland spricht man ihnen ein menschenwürdiges Leben ab. Aber immerhin können sie dort protestieren.“ Ein Intellektueller aus der Peripherie stimmte dem zu, was der der Berliner Flüchtlingsaktivist Adam Bahar im Blog „Africa Is A Country“ anprangert: dass sich Deutschland über Kriege und Flüchtlinge nicht wundern dürfe, weil es einst den Sudan mit Waffen vollgepumpt habe. Ungeplant korrespondiert Elgizoulis marxistische Analyse für Zielonys „The Citizen“ auch mit dem Hauptthema von Biennale-Gesamtkurator Okwui Enwezor: Er lässt im Sinne einer radikalen Auseinandersetzung mit den globalen Krisen sieben Monate lang das Kapital von Karl Marx im zentralen Pavillon vorlesen.

Die Autoren: Julia Joerin ist Journalistin, Roman Deckert Sudanexperte. Sie sind Kooperationspartner von Tobias Zielonys Projekt „The Citizen“