Der innere Feind des Osmanen-Reichs

GENOZID Rolf Hosfeld und Sibylle Thelen interpretieren in historischen Sachbüchern den Völkermord an den Armeniern überzeugend als schreckliches Krisensymptom eines Empires im Niedergang

Das Deutsche Reich hätte diesen Völkermord verhindern können. Es hat es nicht getan

VON INGO AREND

„Man kann das, was damals geschehen ist, in dem Begriff des Völkermords zusammenfassen wollen, und ich kann die Gründe dafür und erst recht die Gefühle dazu gut verstehen.“ Mit dieser wahrhaft diplomatischen Formel ging Außenminister Frank-Walter Steinmeier zu Beginn der Woche auf die Abgeordneten zu, die kritisiert hatten, dass in dem Entschließungsantrag des Deutschen Bundestags für die heutige Debatte über den Jahrestag des Völkermords an den Armeniern das Wort „Völkermord“ nicht aufgetaucht war. Er selbst nahm ihn aber nicht in den Mund.

Der rhetorische Eiertanz ist ein schönes Beispiel für die Wahrnehmungsblockaden der Politik. Denn an Zeugnissen, die belegen, wie exakt diese Vokabel für das Verbrechen zutrifft, das zwischen dem Frühjahr 1915 und dem Herbst 1918 im Osmanischen Reich verübt wurde, fehlt es nicht. Schon 2010 zitierte die Stuttgarter Politikwissenschaftlerin Sibylle Thelen in der Erstauflage ihres jetzt überarbeiteten Buches „Die Armenierfrage in der Türkei“ das Fazit Wolfgang Gusts, wonach es an der „Faktizität des Völkermords an den Armeniern“ keinen Zweifel mehr gebe.

Gust, ein ehemaliger Spiegel-Journalist, erhärtete 2005 mit seiner Sammlung von Dokumenten des Auswärtigen Amts unter dem Titel „Der Völkermord an den Armeniern 1915/16“ den Befund, den der Theologe Johannes Lepsius 1916 unter dem Titel „Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei“ 1916 veröffentlicht hatte. Aus Rücksicht auf den Bündnispartner Türkei im Ersten Weltkrieg war das Buch im Deutschen Reich verboten worden.

Systematische Vernichtung

Für den Berliner Historiker Rolf Hosfeld steht der Tatbestand des Genozids spätestens seit dem Telegramm Hans von Wangenheims außer Frage. Der deutsche Botschafter im Osmanischen Reich telegrafierte am 17. Juli 1915 an Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, „dass die Regierung tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reich zu vernichten“. In seinem neuen Buch „Tod in der Wüste“ rollt Hosfeld dieses Verbrechen erstmals in einer chronologischen Gesamtdarstellung auf.

Weder Thelen noch Hosfeld, Direktor der Forschungsstätte Lepsiushaus in Potsdam, sehen den historischen Stichtag des 24. April 1915 als eine Stunde null des Völkermords an den Armeniern. Einen Tag vor der Landung der antiosmanischen Entente auf der Halbinsel Gallipoli wurden in Istanbul auf Befehl der jungtürkischen Junta 280 armenische Intellektuelle verhaftet. Viele trugen noch Schlafanzüge. Nach einer Irrfahrt durch diverse Gefängnisse wurden sie schließlich in Ankara totgeschlagen.

Vielmehr interpretieren die Autoren den Genozid als Krisensymptom eines Empire im Niedergang. Schon 1894 bis 1896 fielen den Pogromen unter Sultan Abdül Hamid II. Hunderttausende Armenier zum Opfer. Nach der Niederlage der Osmanen in den Balkankriegen 1912/13 drohte der völlige Zerfall des Reichs. Diese labile historische Periode demonstriert eindrücklich die Konsequenzen eines ideologischen Antimultikulturalismus.

Genau mit diesem Argument nämlich begründete Yusuf Akçura, ein Vordenker des jungtürkischen Comité Union et Progrès (CUP), die Idee einer homogenen türkischen Nation. In seinem Aufsatz „Drei Arten der Politik“ verwies er schon 1904 auf das Scheitern der Vielvölkerstaaten am Bosporus und in Österreich. Aus den osmanischen Armeniern, ursprünglich „Modernisierungspartner“ (Hosfeld) der Jungtürken, wurde in diesem Denken der innere Feind schlechthin. Die seit dem Militärputsch 1913 regierende CUP-Junta exekutierte diesen Ethnonationalismus mit mörderischer Konsequenz.

Schon im März 1915 fand in einem Dorf bei Adana die erste systematische Deportation statt, im Mai 1915 wurde ein Deportationsgesetz erlassen. Die Junta mobilisierte paramilitärische Todesschwadronen und kurdische Bergstämme. Von den vielen „Killing Fields“ dieses Genozids zählt das Massaker in der Kemah-Schlucht am Euphrat zu den furchtbarsten. Dort wurden im Juni 1915 in vier Tagen 25.000 Armenier getötet: Die Opfer wurden in eine steile Schlucht und in den Fluss geworfen.

Hosfeld hält das Fehlen des einen, entscheidenden Befehls für die Vernichtung der Armenier – wie es ihn im Nationalsozialismus mit dem Protokoll der Wannsee-Konferenz gab – nicht für erheblich. Er definiert den armenischen Genozid als einen der „fortschreitenden Radikalisierung“. Er reichte vom Schüren „genozidaler Stimmung“ über die immer systematischere Deportation bis zur Endlösung. „Das Ziel muss die Ausrottung der armenischen Rasse sein“, zitiert er den Chef der Deportationsbehörde in Aleppo.

Mit der Vokabel „unbeabsichtigter Völkermord“ stellt die Türkei nun das Vorsätzliche dieses Völkermords, das die UNO-Konvention von 1948 impliziert, in Frage. Dieser Wille zeigte sich bei dem an den Armeniern aber auch in einem bislang unterbelichteten Zweck: Er sollte nämlich die wirtschaftlich starke armenische durch eine türkische Bourgeoisie ersetzen. Hosfelds Belege zu Enteignungen und Plünderungen stützen seine These einer „mit Gewalt durchgeführten nationalen Sozialrevolution“.

Thelens und Hosfelds Bücher ergänzen sich hervorragend. Wo die Politologin souverän die komplizierte Diskursgeschichte des armenischen Völkermords in der Türkei auffächert, entfaltet Hosfeld ein erstklassig recherchiertes, gut nachvollziehbares historisches Panorama. Obwohl er das Grauen mitunter unerträglich anschaulich werden lässt, verliert er sich nicht in der Fülle blutiger Details, sondern systematisiert sie immer wieder. In dem Wüten des Arztes Mehmet Reschid, dem Gouverneur von Diyarbakir, erkennt er nicht allein eine besonders barbarische Grausamkeit. Er deutet sie vielmehr als Sinnbild der „exterminatorischen Systematik“, mit der die jungtürkische Elite in allen Provinzen die rassistische Vision eines rein türkischen Staates durchsetzte.

Zu kurz bei Hosfeld kommt das deutsche Militär. Dessen unrühmliche Rolle hat der taz-Journalist Jürgen Gottschlich in einem eigenen Buch über die Rolle des Deutschen Reiches aufgearbeitet. Dennoch: Wenn ein Buch ein Massenpublikum über ein Ereignis aufzuklären vermag, das hinter dem Nebel der Begriffsschlachten wie dem Grau der Dokumente als reales Geschehen seltsam schemenhaft geblieben ist, dann ist es das Buch des Berliner Kulturhistorikers.

Statt auf die Resolutionen vieler nationaler Parlamente setzt Thelen in der Nomenklatur-Frage auf allmähliche Bewusstseinsveränderung in Form einer „europäischen Erinnerungskultur“ der Zivilgesellschaften. Ihr Paradebeispiel ist die Internetkampagne „Ich entschuldige mich“. Mehr als 30.000 türkische Bürger hatten 2009 eine Erklärung unterzeichnet, mit der sie sich bei den Armeniern entschuldigten.

Wiedergeburt einer Nation

So konzessionsbereit die AKP zu Beginn ihrer Regierungszeit in dieser Frage war, hatte Thelens Plädoyer etwas für sich, „nicht in alte Reflexe zurückzufallen“. So hartnäckig, wie die türkische Regierungspartei inzwischen aber wieder jede Verantwortung für den Völkermord zurückweist, um ihre Idee der Wiedergeburt der Türkei als islamischer Nation nicht befleckt zu sehen, helfen aber wohl nur deutliche Worte.

Selbstverständlich lässt sich fragen, ob ein Parlament ein historisches Urteil fällen sollte. Die besondere Verantwortung des deutschen Souveräns in der „armenischen Frage“ liegt aber auf der Hand. Die Deutschen haben mit dem Mord an den Hereros und Nama 1904 den ersten Völkermord der Geschichte verübt. Sie haben den armenischen Völkermord nicht verhindert, obwohl sie es gekonnt hätten. Und sie sind die Urheber des Holocausts.

Vor diesem Hintergrund ist es beschämend, dass das Wort „Völkermord“ erst auf massiven Druck an entlegener Stelle in den Parlamentsantrag floss. Der Großen Koalition war die Rücksicht auf den alten und neuen Waffenbruder im Nahen Osten offenbar wichtiger als die historische Wahrheit.

Immerhin baut der Antrag Frank-Walter Steinmeier eine goldene Brücke für den überfälligen Beweis, dass er den Streit über die Frage, ob die Beteiligung des Deutschen Reiches an der Vernichtung der Armenier „Beihilfe zum Völkermord“ (Jürgen Gottschlich) oder „unterlassene Hilfeleistung“ (Christin Pschichholz) war, nicht um eine dritte Kategorie erweitern will: Versuchte Beihilfe zur Leugnung.

■ Rolf Hosfeld: „Tod in der Wüste. Der Völkermord an den Armeniern“. C. H. Beck, München 2015, 288 Seiten, 24,95 Euro

■ Sibylle Thelen: „Die Armenierfrage in der Türkei“. Wagenbach, Berlin 2015, 95 Seiten, 9,90 Euro