ERIK REGERS AUFZEICHNUNGEN AUS DEN LETZTEN KRIEGS- UND ERSTEN FRIEDENSTAGEN IN BERLIN UND UMLAND: Verbrannte Akten, vergrabene Parteiabzeichen
JÖRG SUNDERMEIER
Am 21. April 1945 weiß Erik Reger nicht, dass Hitler tot ist. Aber er beginnt ein Tagebuch, das er bis zum Juni führen wird und das er später sogar offenkundig für eine Publikation vorbereitet hat. Erschienen ist das Tagebuch erst jetzt.
Erik Reger war kein Unbekannter, sein Roman „Union der festen Hand“, 1931 erschienen, war recht erfolgreich, wurde aber 1933 verboten. Reger selbst war zu Beginn der Nazidiktatur in die Schweiz emigriert, konnte sich aber das Leben dort nicht leisten, so kehrte er zurück, durfte einige unpolitische Romane veröffentlichen, sich allerdings nicht mehr journalistisch bestätigen. Später, noch im Jahr 1945, wurde er Mitherausgeber und Chefredakteur des Tagesspiegels, aus dem er ein bürgerlich-liberales, später auch antikommunistisches Organ machte, was ihn wiederum zur Zielscheibe des sowjetischen Geheimdienstes machte. 1954 verstarb er, gerade mal sechzig Jahre alt, er hatte sich verausgabt im Kampf um ein besseres Deutschland.
Dieses Deutschland schwebt ihm bereits 1945 vor, während er die letzten Kriegs- und die ersten Besatzungstage beschreibt. Er lebt zu diesem Zeitpunkt in Mahlow bei Berlin. Im ersten Eintrag des Tagebuches zeichnet er auf, wie versprengte italienische Zwangsarbeiter, die im Ort herumirren, im dritten Eintrag die ersten sowjetischen Soldaten. Er dokumentiert, wie die Deutschen bis zur letzten Minute Akten verbrennen und Parteiabzeichen vergraben, wie sie einerseits plötzlich alle an Hitler zweifeln und andererseits zugleich auf die „Wunderwaffen“ hoffen, die ebenjener versprochen hat. „Vollkommene Apathie und Resignation ist das allgemeine Kennzeichen.“
Die sowjetischen Soldaten kommen zunächst, um zu siegen, bald dann wird geplündert und vergewaltigt. Reger kann es ihnen nicht wirklich übel nehmen, er weiß, welche Schrecken die Wehrmacht in der Sowjetunion verbreitete. Teilweise ist er dabei sehr rau, selbstgerecht mitunter. Reger hatte sich nie angepasst, er war Antifaschist durch und durch, und er konnte es kaum ertragen, wie sich ehemalige Nazis nun eilfertig den neuen Machthabern andienten. Dabei ist seine Schilderung der Sowjets nicht immer frei von zeittypischen Rassismen, und es ist heute interessant zu sehen, wie jemand, der allen nationalistischen Ideen so fern stand, zugleich so unbeschwert Sätze aus der Rassenlehre aufschreiben konnte. Doch das hält sich in engen Grenzen.
Verwirrt ist Reger durch die scheinbare Disziplinlosigkeit der Sowjetsoldaten, berichtet dann aber immer wieder, dass er und die, die er im Haus hat Zuflucht finden lassen, allein durch die russische Übersetzung der „Union der festen Hand“, die Reger ihnen stets zeigte, vor Übergriffen geschützt waren. Reger hält die Sowjetsoldaten für naiv und kindlich, manchmal muss er sich aber auch sagen, dass diese jungen Menschen im Krieg keine vernünftige Bildung haben erhalten können. Dennoch ist er immer wieder aufs Neue überrascht von der Andersartigkeit der Kulturen.
Schließlich aber ist er empört, als er erste Propagandazeitungen bekommt (über die er auch erstmals glaubhaft vom Tod Hitlers erfährt), in der er nicht das findet, was er für wahr hält. Dass die Sowjetadministration noch anderes zu tun hat, als Nazis und Nazisymbole zu entfernen, kann er gleichfalls nicht fassen. Hier steht jemand inmitten eines Kriegssturms und will zugleich ein bürgerliches, ein „anständiges“ Vorgehen sehen, das ist teilweise erschreckend realitätsfremd, aber von einer selten gesehenen Ehrlichkeit.
Erschöpfung und Euphorie
In seinem Tagebuch ist Reger nicht der Schriftsteller, der er war, obschon das Tagebuch stellenweise glänzend geschrieben ist. Es ist auch das Dokument eines Lebensabschnitts, der von Erschöpfung und Euphorie geprägt ist. Das von Andreas Petersen im Nachlass aufgefundene und edierte Tagebuch ist eine echte Entdeckung!
■ Erik Reger: „Zeit des Überlebens. Tagebuch April bis Juni 1945“. Transit Buchverlag, Berlin 2014, 160 Seiten, 18,80 Euro
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