Die Schalltrichter der Sousaphone

MUSIK Eine Fotoausstellung in der Station Berlin am Gleisdreieck feiert den Sound von New Orleans

VON FRANZISKA BUHRE

Mit einem leichten, aufgespannten Schirm werden die Geister aus dem Himmel eingefangen, mit dem weißen Taschentuch in der Hand die bösen Geister weggewedelt. Inmitten hochgereckter Arme und über den Köpfen der Menschenmenge blitzen die Posaunenzüge und die großen runden Schalltrichter der Sousaphone, jener stattlichen Instrumente, die von Musikern um den Körper und vor sich hergetragen werden. Die Bewegung nach oben entsteht in der Fortbewegung: Erst beim gemäßigten, würdevollen Schreiten aus Trauer und zu Ehren eines Verstorbenen nach dem Begräbnis wird zu seinen Ehren, für das Wohlbefinden der Gemeinschaft und zur Wiedergewinnung irdischer Lebensfreude die Straße hinuntergetanzt.

„Second Lines“

Der Fotograf Michael P. Smith hat die faszinierende Kraft von „Second Lines“, den Paraden nach Jazz-Beerdigungen und aus nichtreligiösen Anlässen, über vier Jahrzehnte mit der Kamera eingefangen. Seine Fotografien aus den 1980er Jahren, die als Leihgaben der Historic New Orleans Collection nun in Berlin zu sehen sind, machen die Übertragung von Emotion in Fortbewegung förmlich spürbar: Sie zeigen, wie sehr die Menschen in dieser Kultur aufgehoben sind, welche Gesten, Rituale und Festlichkeiten sie entwickelt haben und wie wichtig es ihnen ist, sich die Straßen ihrer Stadt immer wieder von Neuem zu erobern.

Doch mit der während des Hurrikans „Katrina“ 2005 hereinbrechenden Flutkatastrophe drohten die seit Jahrhunderten gelebten Rituale und Gemeinschaften, Musik, Festkultur und Kulinarik einfach fortgespült zu werden. Neben vielen historischen Ikonen bedeutender musikalischer Entwicklungen aus New Orleans präsentiert die Ausstellung auch aktuelle Vertreter der Musikkultur, die ihre Stadt allen Widrigkeiten zum Trotz nicht aufgaben und zurückgekehrt sind.

Vor dem Wirbelsturm zählte die Großstadt am Mississippi im Bundesstaat Louisiana 450.000 Einwohner. Der Flutkatastrophe fielen vor allem Afroamerikaner zum Opfer, die in niedrig gelegenen Stadtteilen wohnten, denn dort waren die Flutkontrollsysteme seitens der Bush-Administration jahrelang vernachlässigt worden. Die Folgen der Flut und der anschließenden Evakuierung der Stadt trafen sie überproportional: Viele konnten sich die Rückkehr in ihre Heimatstadt nicht leisten, zudem wurden große Teile der Bevölkerung aus ihren angestammten Bezirken infolge einer politisch forcierten Gentrifizierung vertrieben. Heute leben 380.000 Menschen in der Stadt, aber fast 200.000 von ihnen sind erst nach „Katrina“ zugezogen.

Shaka Zulu ist einer der Rückkehrer, und er ist am Eröffnungswochenende der Ausstellung in Berlin zu Gast. „Beim ersten Mardi Gras (Karneval in New Orleans) nach ‚Katrina‘ haben die Leute nach ihren Erinnerungen gesucht“, erzählt Zulu im Gespräch. „Als ich an dem Tag so viele Mardi Gras Indians in ihren Anzügen sah, hat mir das große Zuversicht gegeben. Denn wir konnten nur sehr schwer einschätzen, ob die Kultur überhaupt weiterleben würde.“

Zulu ist ein Big Chief, einer der ranghöchsten Mardi Gras Indians. Ihre Kultur geht zurück auf den gemeinsamen Widerstand amerikanischer Ureinwohner und afrikanischer Sklaven gegen die Sklavengesellschaft im 19. Jahrhundert. Zulus prachtvoller Anzug für den Mardi Gras 2011 ist in der Ausstellung zu sehen. Das ausladende Gewand besteht aus Tausenden roten Federn und ist über und über mit Reliefs aus funkelnden Perlen und Glitzersteinen bestickt, die Blitz und Donner symbolisieren. Über 300 Tage näht ein Indian an einem solchen Anzug, der schließlich über 50 Kilo wiegen kann und am Mardi Gras Day von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang getragen wird, auch von weiblichen Big Chiefs.

Ausstattung und Gestaltung der heutigen Anzüge kann man in der Ausstellung mit historischen Aufnahmen aus den 1950er Jahren vergleichen. In jenen Jahren wurde in New Orleans auch Musikgeschichte geschrieben: In den J&M-Studios von Cosimo Matassa nahmen Little Richard, der legendäre Schlagzeuger Earl Palmer, Fats Domino oder Ray Charles auf. Ihre und noch viele andere Namen und Schallplatten werden in einem Rundgang mit Bildern, Texten, Sammlerobjekten und in Filmaufnahmen vorgestellt, heutige Musiker, Fans und Veranstalter erzählen in eigens für die Ausstellung erstellten Videos von der Musikszene in New Orleans vor und nach „Katrina“.

Über einen schrägen Vogel wie den Sänger Ernie K-Doe will man nach dem Besuch unbedingt mehr herausfinden, ebenso über die „Baby Dolls“, schwarze Prostituierte, die sich in den 1910er Jahren das Recht herausnahmen, maskiert und in knappen Nachthemden beim Karneval in der Parade zu marschieren, und deren Kultur seit wenigen Jahren wieder auflebt.

■ „New Orleans – The Sound of a City“, bis 26. 4., Station Berlin, Luckenwalder Str. 4–6, Mo. – Do. und So. 10–19 Uhr, Fr. + Sa. 10–20 Uhr