: Neustart hinter Stacheldraht
Aus dem Konzentrationslager in Moringen bei Göttingen wurde nach seiner Befreiung ein Camp für „Displaced Persons“. In den KZ-Baracken lebten zwischen 1945 und 1951 vor allem ehemalige polnische Zwangsarbeiter. Wie deren Leben aussah, erforscht derzeit der Göttinger Stefan Wilbricht
In der Kleinstadt Moringen errichteten die Nazis 1940 ein KZ für männliche Jugendliche. Dort waren bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs insgesamt rund 1.400 Jugendliche zwischen 12 und 22 Jahren inhaftiert. Von 1941 an war das Jugend-KZ auch Experimentierfeld der NS-Rassenpolitik. So genannte Kriminalbiologen versuchten ihre These, dass „Kriminalität und Asozialität“ erblich bedingt seien, mit pseudowissenschaftlichen Untersuchungen an den Häftlingen zu belegen. Einige Gefangene wurden damals in der Göttinger Universitätsklinik zwangssterilisiert. RP
von Reimer Paul
Jerzy Zieborak, Alojzy Bladowski und Jan Jezierski waren gerade 16 Jahre jung, als sie im Februar 1945 als Kriegsgefangene ins Jugend-Konzentrationslager Moringen bei Göttingen kamen. Sie hatten sich zuvor in der polnischen Untergrundarmee Armia Kraijowa am Warschauer Aufstand beteiligt und waren dort von den Deutschen gefangen genommen worden. Bei der Evakuierung des Moringer KZ im April wurden die drei Jungen in den Baracken zurückgelassen – und so zu den ersten Bewohnern des von den Alliierten so genannten „Polish Displaced Persons Camp“ in Moringen. Die ortsansässige Bevölkerung bevorzugte den Begriff „Polenlager“.
Der Göttinger Student Stefan Wilbricht erforscht derzeit die bislang kaum bekannte Geschichte des Camps. Dieses Lager bestand bis 1951. Tausende Polen, vor allem ehemalige Zwangsarbeiter, lebten zeitweise in den alten KZ-Baracken. Die meiste Zeit hinter Stacheldraht – der Zaun verschwand erst, als deutsche Behörden das Lager 1950 von den Alliierten übernahmen. Durch die Stacheldraht-Umzäunung, sagt Wilbricht, hätten alle alten Ressentiments und Vorurteile der deutschen Nachbarn gegen die ehemaligen polnischen Zwangsarbeiter „neuen Nährboden gefunden“. Nicht nur in Moringen wurden die in Lagern zusammengepferchten polnischen „Displaced Persons“ für die Deutschen zum Sündenbock: „Die Polen wurden mit der Kriminalität, mit Raubüberfällen, Beutezügen und dem ganzen Chaos in Verbindung gebracht.“
Bis zu zehn Millionen ausländische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene aus 20 Nationen hielten sich Schätzungen zufolge bei Kriegsende in Deutschland auf. Als Erste kehrten die Westeuropäer und Russen in ihre Heimatländer zurück. „Für die polnischen ‚Displaced Persons‘ war auf den überfüllten Straßen zunächst kein Platz“, erzählt Wilbricht.
Immer wieder sei ihre Heimkehr verschoben worden, „alle Polen haben in den Auffanglagern auf gepackten Koffern gesessen und gewartet“. Als das Reisen ab 1946 wieder möglich wurde, wollten viele Polen nicht mehr. Durch die Verschiebung der Grenze nach Westen hatten etliche Menschen ihre alte Heimat verloren. Der Kalte Krieg hatte begonnen. Und in Warschau war eine stalinistische Regierung ans Ruder gelangt, was manche Polen Repressionen befürchten ließ. In den drei westlichen Besatzungszonen lebten Ende 1945 noch rund eine Million „Displaced Persons“, mehr als die Hälfte davon waren Polen.
In Moringen hatten US-Truppen am 10. April 1945 das Konzentrationslager befreit, waren dann aber schnell weitergezogen. Von den amerikanischen Soldaten mit Armbinden ausgestattet, machten sich die Polen im Moringer Camp an die Organisation des Allernotwendigsten. Dazu zählten zunächst der Aufbau einer medizinischen Versorgung und die Sicherstellung der Versorgung durch die Stadt Moringen.
Die Besatzungsmächte hatten verfügt, dass die Kommunen, in deren Gebiet Lager für „Displaced Persons“ eingerichtet waren, für deren Unterhalt zu sorgen hatten. Die Gemeindehaushalte mussten Sondermittel bereitstellen und später an höherer Stelle abrechnen. In Moringen verpflichtete die Verwaltung mehr und mehr Betriebe, Lebensmittel und andere Waren ins Lager zu liefern, denn es strömten immer mehr Menschen in das Camp. Eine halbwegs ausgewogene Ernährung war für die oft ausgezehrten Häftlinge und Zwangsarbeiter lebenswichtig. Neben vielen anderen Unternährten starb im April 1945 Jan Jezierski. Er hatte, fand Wilbricht heraus, „zu schnell und zu viel Fleisch gegessen“.
Innerhalb des Camps reagierte die polnische Gemeinschaft schnell auf den Zulauf und baute Angebote in den Bereichen Seelsorge, Kultur und Bildung auf. Handwerker richteten Werkstätten ein. Ein kleiner landwirtschaftlicher Betrieb baute Gemüse an. Mit billiger Farbe wurden die Barackenwände getüncht. „All das zeigte“, sagt Wilbricht, „dass trotz allem Freude am Leben da war.“
Es entstanden eine Schule und ein Kindergarten, eine weitere Schule für Landarbeiter und ein Tanzsaal. Im nahe gelegenen Dorf Imbshausen eröffneten ehemalige polnische Offiziere eine Kadettenschule, in der auch Jerzy Zieborak und 35 weitere polnische junge Männer später das Abitur nachholten.
Die in Moringen von der SS als Offizierskasino missbrauchte katholische Kirche wurde wieder eingeweiht. Ein ehemaliger polnischer Kriegsgefangener, Jozef Gaweda, las die erste Messe. Zu den Gottesdiensten kamen auch einige deutsche Nachbarn. Sonst beschränkten sich die Kontakte zwischen Lagerbewohnern und Stadtbevölkerung nach Wilbrichts Recherchen jedoch auf den Tauschhandel. „Abgrenzung war angesagt, jeder hat sich um Seins gekümmert. Die Angst der Deutschen vor einer Rache der Polen war immens.“
Sie wurde weiter geschürt, als deutsche Behörden die Verantwortung übernahmen und die „Displaced Persons“ zu „Heimatlosen Ausländern“ machten. „Der Stadt erwächst durch die Übernahme dieses Personenkreises ein neues Problem“, schrieb 1950 die Moringer Zeitung.
Im Sommer 1951 verließen die letzten 350 Bewohner das Moringer Lager. Sie wurden zunächst auf andere Camps in Clausthal und Hannoversch-Münden verteilt. In Moringen wurden einige Baracken abgerissen – und auf dem Gelände entstand später das Landeskrankenhaus für psychisch kranke Straftäter.