Die Romanze vom politischen Wandel

Die Geschichte der arabischen Welt: Der ägyptische Filmregisseur Youssef Chahine, der jetzt mit 82 Jahren starb, fand für sie ganz eigene Bilder

Nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 drehten zehn Vertreter des Weltkinos einen Omnibusfilm, der einfach dieses inzwischen zur Chiffre gewordene Datum im Titel trägt: „09’11’’01“. Sean Penn vertrat dabei die USA, aus Japan kam ein erratischer Beitrag von Shohei Imamura, unter den weiteren Regisseuren fanden sich Claude Lelouch, Ken Loach und Samira Makhmalbaf. Es war eine Auswahl voller Überraschungen, zu denen auch zählte, dass der Ägypter Youssef Chahine vertreten war. Er gehört einer Generation an, deren Begriff von Weltkino stark mit jeweiligen Ideen von Nationalkino vertreten war.

Youssef Chahine war seit den späten Fünfzigerjahren so etwas wie der offizielle Filmemacher Ägyptens, und zwar mit allen vertrackten Implikationen, die dieser Status unter den ständig wechselnden innen- und geopolitischen Bedingungen mit sich brachte. Sein Durchbruch als Künstler ging mit jener Phase des (pan)arabischen (säkularen) Nationalismus einher, auf die Intellektuelle wie Catherine David in den letzten Jahren mit erneuertem Interesse zurückblicken. In Ägypten ist dieses Phase unverbrüchlich mit dem Namen Nasser verbunden, dem General, der dem Land eine Modernisierung von oben verordnete, die im Assuan-Staudamm ein Monument gefunden hat. Youssef Chahine, geboren 1926 als koptischer Christ in Alexandria, drehte schon 1951 einen Film mit dem Titel „Sohn des Nils“, in dem ein Bauer vom Land in die Stadt geht, sich dort in der kriminellen Halbwelt verliert und nur mit knapper Not wieder in sein Dorf zurückfindet.

Youssef Chahine hatte selbst eine Weile als Schauspieler gearbeitet (und dafür sogar in den USA eine Ausbildung gemacht), als Regisseur aber fand er erst seine unverwechselbare, flexible Form: Seine Filme aus den Fünfzigerjahren haben ein Bein im Neorealismus, das andere aber im amerikanischen (wie im indischen) Musical; sie verwandeln die Entkolonialisierung in einen Tanz, und den politischen Wandel in eine Romanze. Die drei Filme seiner Alexandria-Trilogie führten später die nationale Geschichte mit der persönlichen Biografie von Chahine parallel. Dabei führte der arabische Nationalismus nirgends zu einer Demokratie nach westlichem Muster. Im Irak kam Saddam Hussein an die Macht, in Ägypten blieben die Militärs lange bestimmend. In dem Maß, in dem die Hoffnungen der Sechzigerjahre enttäuscht wurden, wurde Chahine zu einem historischen Erzähler, der immer wieder modellhaft die Geschichte der arabischen Welt an ihren Knotenpunkten aufsuchte.

Er drehte ein Biopic über den mittelalterlichen Philosophen Averroes, einen Vermittler zwischen muslimischer und christlicher Kultur („Al-Massir“, 1997), ein Drama über die französische Besatzung in Ägypten unter Napoleon („Adieu Bonaparte“, 1985, mit Michel Piccoli und Patrice Chereau), und schon 1963 hatte er in einem Epos über Sultan Saladin seine Sicht auf den damals noch stärker unter kolonialen Vorzeichen begriffenen Konflikt der Kulturen dargelegt.

Youssef Chahine konnte in der frühen Phase seiner Karriere unter den Bedingungen einer entwickelten Filmindustrie arbeiten. Ägypten war damals Marktführer in der arabischen Welt. In dem Maß, in dem die kommerziellen Bedingungen sich veränderten, wich Chahine zunehmend in ein international anerkanntes Autorenkino aus, das es ihm ermöglichte, mit Stars zu arbeiten und seine Idee eines sowohl intellektuellen wie populären Kinos zu verwirklichen.

In „11’09’’01“ erzählt er von einem ägyptischen Filmemacher, der nach der Nachricht von den Attentaten in den USA von zwei Geistern heimgesucht wird: einem amerikanischen Soldaten, der 1983 im Libanon bei einem Anschlag getötet wurde, und einem jungen Palästinenser, der bei der Intifada gegen die israelische Besatzung ums Lebens kam. Der Regisseur, der als Alter Ego von Chahine gelten muss, lässt im Computer die stürzenden Türme von New York wieder auferstehen. Das ist ein starkes Zeichen für den Optimismus, den Youssef Chahine mit dem Kino auch dann noch verband, als er in der globalisierten Medienwelt schon marginalisiert war. Am Sonntag ist er im Alter von 82 Jahren in Kairo gestorben.

BERT REBHANDL