: Der Weg der Steine
Durch das Bett des Spissibaches im Berner Oberland rollen besenderte Steine. Damit soll die Dynamik der Geschiebefracht erforscht werden. Ziel dieser Messungen und auch weiterer Projekte ist die Schaffung eines virtuellen Bergbaches
von URS FITZE
Den Laptop vor den Bauch geschnallt, einen längeren Stab in der Hand, an dessen Ende eine reifförmige Induktionsantenne befestigt ist: So ausgerüstet stapft Benedikt Käsermann durch das Bett des Schweizer Spissibaches oberhalb von Leissigen am Thunersee.
Auf dem Bildschirm ist eine Zahlenkombination zu erkennen. Als sich diese verändert, stoppt der Geograf: Er ist fündig geworden. Ein bläulicher Klotz von den Ausmaßen eines Buches schimmert im klaren Wasser des Bergbaches.
Käsermann hat ihn selbst aus Beton hergestellt und zu Testzwecken ins Bachbett gelegt. Eingegossen ist eine weiße Plastikkarte im Kreditkartenformat. Dieselben Modelle werden für die Kontrolle am Skilift oder für den Zutritt in die Büroräume von Bankinstituten verwendet.
Die Karten tragen in ihrem Innern einen kleinen Chip und eine Metallspule: Sender und Antenne. Nähert sich Käsermann mit seiner kreisrunden Induktionsantenne bis auf einen halben Meter, erwacht der Chip, der die dafür notwendige Energie vom Magnetfeld des Suchgerätes bezieht.
Er sendet ein individuelles Signal aus, das nicht nur eine Ortung ermöglicht, sondern auch die genaue Zuordnung. Käsermann kann deshalb auch angeben, welchen Stein er aufgefunden hat. Damit kann eine beliebige Anzahl von besenderten Steinen beobachtet werden.
Das System hat gegenüber batteriebetriebenen Ortungsgeräten einen großen Vorteil: Es verbraucht keine Energie und ist wartungsfrei. Für die sichere Auffindung ist zudem ein kleines Metallstück eingegossen. Damit kann ein Stein mit dem Metalldetektor noch geortet werden, wenn er einen Meter tief im Bachbett verschwunden ist.
Die mit Chip und Antenne bestückten Kunststeine sollen schon bald dazu beitragen, eine der schwierigsten Fragen in der Erforschung von Wildbächen zu beantworten: Wie verhalten sich Geröll und Geschiebe? Wann und unter welchen Bedingungen geraten sie in Bewegung? Und vor allem: Welche Gebiete im Einzugsgebiet eines Wildbaches sind gefährdet?
Genaue Angaben dazu sind bislang praktisch unmöglich. Experten behelfen sich mit Schätzungen, die zwar gut und plausibel abgestützt sind, sich aber nicht selten auf die Angabe von Größenordnungen beschränken müssen.
Dabei sind deren Angaben oft von zentraler Bedeutung für den Bau von Geschiebesammlern. Das sind mächtige Betonmauern, die am Talausgang eines Wildbaches aufgebaut werden. Sie schützen Siedlungsgebiete vor den Geröllmassen, die ein Wildbach nach Starkniederschlägen mit sich führt.
Käsermann hat im Rahmen seiner Diplomarbeit am Geografischen Institut der Universität Bern das technische Verfahren entwickelt, mit dem die Kunststeine, aber auch ein mit dem Chip ausgestatteter kleiner Baumstamm geortet werden können.
Denkbar wäre auch die Verwendung von Geröll aus dem Spissibach. Doch das Flysch-Gestein sei dazu viel zu brüchig, sagt Käsermann. Zudem wäre es technisch nur mit großem Aufwand machbar, die flache Chipkarte in einen Stein zu implantieren. „Künstliche Steine verhalten sich aber im Bachbett nicht anders als natürliche“, wiegelt Käsermann allfällige Bedenken ab, die eckigen Klötze könnten vielleicht eher liegen bleiben als die abgerundeten Natursteine. Insgesamt hat Käsermann 56 Kunststeine an verschiedenen Stellen im Spissibach deponiert und deren Lauf während eines Jahres verfolgt. Ein Drittel der Steine ging verloren. Die andern wanderten in unterschiedlichem Tempo talwärts – von wenigen Zentimetern bis zu mehreren hundert Metern.
Aus dem Rinnsal wird ein reißender Fluss
Für die Ortung hat Käsermann zusätzlich Antennen an mehreren Fixpunkten fest installiert. Sie registrieren die exakte Zeit, wann einer der besenderten Steine die Stelle passiert. Das könnte aber schon durchaus ausreichend sein, um etwa die Konsequenzen von Starkniederschlägen zu erforschen.
Denn die jetzt neu entwickelte Methode mit den besenderten Kunststeinen ist nur ein Mosaikstück in einem ganzen Puzzle von Daten, die am Spissibach zum Teil schon seit zehn Jahren erfasst werden. Dazu gehören verschiedene klimatische Werte wie Lufttemperatur, Niederschlag oder Wind.
Zudem wird der Pegelstand des Spissibaches an mehreren Stellen permanent aufgezeichnet. Gemessen wird auch die elektrische Leitfähigkeit des Wassers. Das erlaubt Rückschlüsse auf dessen Ursprung. Denn Grundwasser leitet elektrischen Strom wegen seines höheren Gehaltes an Mineralsalzen besser als Regenwasser.
In den vergangenen Jahren waren diese Daten die Ausgangslage für eine ganze Reihe von Teilprojekten zur Erforschung der Dynamik des Spissibaches. Dieser zeigt wie jeder Wildbach sehr ausgeprägte Jahresgezeiten.
Im Januar ist er nur ein kleines Rinnsal. Im Frühsommer nach der Schneeschmelze wird daraus ein rauschender Wildbach. Im Hoch- oder Spätsommer kann der Spissibach zum wild tobenden Ungetüm werden. Am 31. August registrierten die Messgeräte nach einem Starkregen mit 41 Litern Niederschlag im Einzugsgebiet des Baches einen Anstieg der durchschnittlichen Abflussmenge von 100 auf 5.000 Liter pro Sekunde binnen weniger Minuten. Nach einer Dreiviertelstunde war der Spuk wieder vorbei.
Ein Gewitter ähnlichen Ausmaßes hatte im Sommer 1999 im benachbarten Saxetenbach eine Flutwelle verursacht, die 21 Canyoning-Touristen in den Tod riss. Auch die Kunststeine von Benedikt Käsermann gerieten gewaltig ins Rutschen. Den Rekord hielt der Brocken Nummer 32, der 236 Meter talwärts wanderte. In den fünf Tagen zuvor waren es zusammengenommen gerade 13 Meter gewesen.
Sie habe schon beobachtet, dass riesige Felsbrocken nach einem Starkregen sich Dutzende Meter nach unten bewegt hätten, erinnert sich Judith Dobmann. Aus anderen Forschungsprojekten ist inzwischen bekannt, dass zuerst die feinsten Bestandteile im Bachbett, der so genannte Silt, abgetragen werden, bevor die großen Brocken den Halt verlieren und ins Rutschen geraten.
Dobmann betreut seit drei Jahren die Messeinrichtungen am Spissibach und kennt das Gewässer inzwischen in- und auswendig. Der Bach entspringt an den steilen Hängen des 2.248 Meter hohen Morgenberghornes und mündet auf 558 Metern in den Thunersee. Das durchschnittliche Gefälle liegt bei 28 Grad – wobei es vor allem an den beiden Oberläufen an einigen Stellen nahezu senkrecht ins Tal geht.
Auch wenn inzwischen eine große Fülle an Datenmaterial vorliegt – für die Definition etwa eines „Jahrhundertereignisses“, einer Naturkatastrophe, die statistisch nur alle 100 Jahre vorkommt, reichen die Daten noch nicht aus. Dazu müssten die Messreihen mehrere Jahrzehnte umfassen. Doch das ist auch nicht das primäre Ziel des Forschungsprojektes.
„Wir betreiben hier reine Grundlagenforschung, die in praktische Anwendungen münden soll“, erklärt Dobmann. Das Hauptziel sei die Erarbeitung eines Computermodells, das den Spissibach simuliert.
Doch es soll auch Gültigkeit haben für jeden anderen Bergbach – sofern gewisse Parameter bekannt sind. Damit könnte einerseits die Prognostik für Schadenereignisse wesentlich verbessert werden. Andererseits ließen sich auch Klimaszenarien modellieren.
Doch das ist noch Zukunftsmusik. „Wir haben inzwischen zahlreiche Puzzleteile gesammelt“, so Dobmann, „sie zusammenzusetzen, wird uns noch mehrere Jahre beschäftigen.“
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