piwik no script img

„Ihr wollt uns töten“

Krieg zum Schutz der Menschenrechte? Die Erfahrung als Balkan-Kriegsreporter: Der ideologische Pazifismus endet an der Tür zum Konzentrationslager

JUGOSLAWIENKRIEG

1991: Slowenien löst sich in einem Zehntagekrieg von Jugoslawien. 1991: Kroatien betont ebenfalls das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ und erklärt sich für autonom. In einem fünfjährigen Krieg muss es das Recht gegen das von Serbien dominierte Restjugoslawien erkämpfen. 1992: Bosnien & Herzegowina erklärt sich unabhängig – Serbien und bosnisches Serbien überziehen diese frühere Teilrepublik Jugoslawiens mit einem Krieg, der bis 1995 dauert. 1999: Die rot-grüne Bundesregierung beteiligt sich am Nato-Angriff auf Serbien, nachdem das Milošević-Regime seinen Bürgerkrieg gegen das autonomiewillige Kosovo verschärft hat. Das Bombardement ist völkerrechtswidrig. Rot-grüne Politiker (Joschka Fischer, Rudolf Scharping) antworten auf die Kritik mit dem Hinweis, sie hätten einen Völkermord („Nie wieder Auschwitz“) verhindern wollen.

1997 war ein Jahr der Ruhe auf dem Balkan. Es war die Zeit, ein Buch zu schreiben, die vergangenen Kriege in Slowenien und Kroatien, vor allem aber den Bosnienkrieg zu resümieren. Und auch ein bisschen Luft zu holen. Denn der nächste Konflikt zeichnete sich schon ab: der Krieg um das Kosovo.

Über vier Jahre Kriegsberichterstattung und sechs Jahre Reporterdasein auf dem Balkan lagen hinter mir. Ein Leben aus dem Rucksack. Ich hatte zwar in einem dalmatinischen Dorf bei Split eine Wohnung gemietet. Doch die meiste Zeit verbrachte ich in den Kriegsgebieten, über 20 Mal gelangte ich in das belagerte Sarajevo, besuchte die neuralgischen Punkte des Krieges, Mostar, Travnik, Tuzla. Und das bedeutete 1993/94, in wenigen Tagen mehrere Frontlinien überwinden zu müssen.

Die technischen Möglichkeiten für die Übermittlung der Texte waren damals begrenzt. In Bosnien war das Telefonsystem zusammengebrochen, für die Benutzung der Satellitenanlagen der Presseagenturen wurden horrende Preise bezahlt. Als Alternative für den taz-Reporter blieb, das Wagnis auf sich zu nehmen, durch die Frontlinien nach Kroatien zu gelangen, und von dort aus die Artikel abzuschicken und neue Projekte mit der Redaktion zu besprechen.

Auch diese Diskussionen waren nicht einfach. Denn die Erfahrungswelten vieler Redakteure, Leser und Politiker in Deutschland und die des Reporters auf dem Balkan unterschieden sich. Als Konsequenz aus der deutschen Geschichte und den Verbrechen der Nationalsozialisten hingen viele der Parole „Nie wieder Krieg“ an. Es bildeten sich zwei Lager heraus, die „Pazifisten“ und die „Bellizisten“, die durch diplomatische und militärische Maßnahmen den Konflikt beenden wollten.

Krass war schon die Diskussion über die diplomatische Anerkennung Kroatiens und Sloweniens durch Deutschland und die meisten Staaten der damaligen EG verlaufen, die am 15. Januar 1992 ausgesprochen wurde, ein halbes Jahr nach der Unabhängigkeitserklärung der beiden ehemaligen jugoslawischen Republiken.

Während serbische Truppen ein Drittel des Territoriums Kroatiens eroberten, vor allem Gebiete, wo es serbische Minderheiten gab, und alle Nichtserben aus diesen Gebieten vertrieben, versuchten europäische Diplomaten Waffenstillstände zu vermitteln, die schon wenige Stunden nach der Unterschrift unter die jeweiligen Dokumente gebrochen wurden.

Die „Pazifisten“ forderten, immer weiter zu verhandeln, während serbische Truppen auf dem Kriegsschauplatz die Barockstadt Vukovar in Schutt und Asche legten und Dubrovnik belagerten. Erst mit der diplomatischen Anerkennung durch die EG-Staaten außer Griechenland wurde diesem Treiben ein Ende gemacht. UN-Truppen rückten im Januar 1992 nach Kroatien ein. Und es gelang ihnen immerhin, die Lage zu beruhigen und die Frontlinien für dreieinhalb Jahre einzufrieren.

Für mich kam die diplomatische Anerkennung Sloweniens und Kroatiens zu spät. Ich hätte mir wie die damals noch existierende jugoslawische Friedensbewegung schnelleres Handeln gewünscht, um einen Krieg zu verhindern. In der taz und in Deutschland insgesamt klagten jedoch viele den damaligen Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) wegen der Anerkennungspolitik als Zerstörer Jugoslawiens an. In Serbien warf man Genscher absurderweise sogar vor, Deutschland habe den Krieg ausgelöst.

Die taz-Berichterstattung und -Diskussion von damals spiegelte wie kaum jemals zuvor oder danach stellvertretend die gesellschaftliche Diskussion an einem wichtigen politischen Einschnitt des gerade wiedervereinigten Deutschlands wider. Wie sollte sich Deutschland zu dem Krieg in Europa verhalten? Sollte es sich an den UN-Missionen mit Truppen beteiligen? Sollte es als Nato-Mitglied militärisch eingreifen, wenn gefordert?

Ein breites Spektrum in der SPD, den Grünen, der FDP war gegen jegliche militärische Aktion, sogar gegen den Einsatz der Bundesmarine in der Adria, die nach Wunsch der UN und der Nato zur Überwachung der Küste eingesetzt werden sollte – und zogen vor das Verfassungsgericht. Aber richtig kam die Diskussion erst mit dem Krieg in Bosnien und Herzegowina in Gang. Konnte der Krieg in Kroatien noch aus dem Aufeinanderprallen zweier Nationalismen erklärt werden, versagte dieses Schema in Bezug auf die über Jahrhunderte gewachsene und verflochtene multireligiöse Gesellschaft.

Die Politik der mit großen Verbrechen verbundenen Vertreibungen ganzer Bevölkerungsgruppen, die Errichtung von Konzentrationslagern 1992 und der Massenmord an der muslimisch-bosniakischen Bevölkerungsgruppe warfen erneut prinzipielle politische Fragen auf. Das Ziel der serbischen und zeitweise auch der kroatischen nationalistischen Politik in Bosnien war es, das Land aufzuteilen und sich möglichst große „ethnisch gesäuberte Gebiete“ einzuverleiben.

Einige deutsche Politiker zogen die Konsequenz: „Nie wieder Faschismus“, forderten Grüne wie Daniel Cohn-Bendit oder Marieluise Beck und wagten, die militärische Intervention zum Schutz der Menschenrechte anzusprechen. Und CDU-Postminister Christian Schwarz-Schilling trat aus Protest gegen die laxe Haltung der Regierung von Helmut Kohl zurück.

Als Reporter vor Ort hatte ich direkt mit den Kriegshandlungen und mit den Opfern zu tun, auch jenen aus den Konzentrationslagern. Und bekam hautnah die Menschen mit, die voller Angst in den Kellern saßen. Als eine junge Frau mit vier Kindern fragte, warum meine Zeitung – sie hatte einen Kommentar eines Kollegen in der Deutschen Welle gehört – dafür sei, dass sie alle sterben müssten, war ich zunächst baff. „Ihr wollt uns keine Waffen für unsere Verteidigung geben“, sagte sie, „also wollt ihr uns töten.“

Oskar Lafontaine oder einige grüne Spitzenpolitiker, die heute nicht so gerne daran erinnert werden wollen, unterstützten das Waffenembargo der UN über Jugoslawien. Es diente in der Tat nur jenen, die über die Waffenarsenale der jugoslawischen Armee verfügten, also den Angreifern. Den Verteidigern Sarajevos wurden widersinnigerweise Waffen vorenthalten.

Serbische Nationalisten wie die Publizistikprofessorin Mira Beham – heute Botschafterin Serbiens in Wien – versuchten geschickt, die Meinung der Pazifisten zu stärken. Die Arbeit von Kriegsreportern, also von Augenzeugen, wurden von ihr als „Meutenjournalismus“ verunglimpft, die systematisch Lügen verbreiteten. Wie gerne hätte ich an den Frontlinien und in den gefährlichen Gebieten mehr Journalisten, als wirklich da waren, gesehen. Und vielleicht auch Mira Beham. Es gab keine Meuten. Aber eben geschickt als „Kritik“ verpackte Propaganda.

Von serbischer Seite wurde die Existenz von Konzentrationslagern geleugnet. Der serbische Geheimdienst lancierte einen Artikel in den USA, der die Echtheit eines Fotos anzweifelte, das abgemagerte Häftlinge hinter Stacheldraht in einem Lager in Westbosnien zeigte. Statt über die dramatische Lage im Lande selbst zu diskutieren, ließen sich unterschiedlichste Leute seitenweise über das Foto aus. Natürlich war das Foto echt. Und Konzentrationslager gab es auch. Man schaue nur in die Protokolle des UN-Tribunals in Den Haag.

Starken Eindruck auf mich machte Marek Edelman, der letzte Kommandant des jüdischen Warschauer Gettos. Es stünde den Soldaten des demokratischen Deutschland besser zu Gesicht, Konzentrationslager zu öffnen, als welche zu bauen, erklärte er 1993 bei einem Treffen in Split. Doch erst musste der Genozid in Srebrenica 1995 geschehen, um auch in Deutschland neue politische Weichenstellungen zu finden. Der von den Menschen und den politisch-historischen Gegebenheiten abstrahierende ideologische Pazifismus war nicht mehr hoffähig. Die „pazifistische“ Mehrheit in der Gesellschaft kippte. Mancher zog seine Konsequenz.

Der damalige Grünen-Fraktionsvorsitzende Joschka Fischer wollte sich 1996 in Sarajevo sehen lassen. Seine Reflexion über Srebrenica und sein „Mea Culpa“ drückte er am Ende der Reise in einem taz-Interview aus, das später den Eingang der Bundeswehrkaserne in Sarajevo schmückte. Er hätte schon viel früher die militärische Intervention auf Seiten der Opfer fordern müssen, erklärte er. Und bahnte sich so den Weg auf den Posten eines Außenministers in der rot-grünen Regierung 1998. Welch eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die rot-grüne Regierung 1999 sich für den Kosovokrieg gegen Serbien aussprechen musste.

Der damalige serbische Präsident Slobodan Milošević betrieb schon seit zehn Jahren im Kosovo einen Konfrontationskurs gegenüber der albanischen Bevölkerungsmehrheit. Und letztlich konnte die Nato nach Srebrenica kein neues Massaker wie in Srebrenica zulassen. Auch über den Kosovokrieg fanden in der taz die härtesten Auseinandersetzungen in der deutschen Presselandschaft statt.

ERICH RATHFELDER ist seit 1983 bei der taz. Lebt und berichtet seit 15 Jahren aus Ex-Jugoslawien. Er bewegt sich im Dreieck Berlin, Sarajevo und Split. Besucht Albanien, Mazedonien, Montenegro, Serbien und das Kosovo.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen