Das Verzeichnis der Nächsten

Warum wird man in einem Land Journalistin, in dem die höchste berufliche Auszeichnung in einer Kugel im Kopf besteht? Ein (Überlebens-)Bericht aus Moskau

VON XENIA MAXIMOVA

„Der Mord an Journalisten ist zu einer Normalität geworden. Warum schreibe ich überhaupt darüber? Weil dies die Wahrheit ist: Wenn ihr diesen Beruf wählt, könnt ihr euch den Tod holen, das müsst ihr wissen“, – das sagt Matwiej Ganopolski , das Ass der russischen Journalistik und Moderator des Radiosenders Echo Moskwy, in seinem neuen Buch, „Sauer-süßer Journalismus“, das sich in erster Linie an junge russische Berufseinsteiger eingerichtet. Klingt ganz schön übertrieben? Nein, er nennt nur die Dinge beim Namen.

Nachdem Anna Politkowskaja erschossen worden war, geriet die Redaktion, in der ich seinerzeit tätig war, regelrecht in Panik: In Internet war eine langes „Verzeichnis der Nächsten“ veröffentlicht worden. Einige Größen unseres Verlages waren auch dabei. „Im Leben kann alles passieren. Wenn ihr dafür nicht bereit seid – wählt nicht den Beruf des Journalisten“, sagt Ganopolski.

Um einen Journalist zu sein, muss man zwei Dinge beherrschen – schreiben und Informationen einholen. Das Erste ist eine Frage der Begabung, guter Ausbildung und täglicher Übung – im Prinzip ist gutes Schreiben ein Gewerbe, das man erlernen kann. Russische journalistische Texte sind immer sehr kreativ, emotional, gefühlvoll und häufig vom Standpunkt eines „Ich“ geschrieben, nicht selten sind sie ein Stück Literatur. Journalismus in Russland ist vor allem Autorenwerk, was für den Autor sowohl die persönliche Verantwortung als auch das Risiko erhöht.

Die Fähigkeit, Informationen zu erlangen, ist die zweite Kunst, in Russland der ersten Regel folgend: Alle Mittel sind recht, um für den Artikel relevante Informationen zu bekommen. Dieser Regel sind im Prinzip keine Grenzen gesetzt – außer vielleicht jener des persönlichen Gewissens.

Als unserer Redaktion durch die Mitarbeiterin eines Waisenhauses zugetragen wurde, dass dort kleine Kinder misshandelt wurden, interessierte sich die Miliz nicht dafür, die Leiter des Waisenhauses leugneten alles. Was kann man in einer solchen Situation machen? Jeder erfahrene russische Journalist kann sofort zehn gute „Rezepte“ anbieten: Man kann vor der Tür auf das Personal warten und versuchen, es zu einem offenen Wort zu bewegen; sich als eine entfernte Verwandte, Sponsor, kinderlose Frau, Klosterschwester und so weiter vorstellen und darauf hoffen, dass sich ein Mitarbeiter verplappert. Man kann in einem weißen Kittel als Krankenschwester, mit der Geheimkamera, einfach reinkommen – da gibt es natürlich ein Risiko, geschnappt zu werden. Man kann einer Putzfrau eine Kamera geben und für ein kleines Honorar Beweisfotos machen lassen. Der Journalist wird zum Detektiv.

Was bist du von Beruf?“ – „Eine Journalistin.“ Journalismus bleibt für viele trotzdem ein renommierter und anerkannter Job, aber mit vielen Aber. Ich stelle mich immer sehr stolz vor, obwohl ich nie weiß, wie die Leute reagieren werden. Journalisten in Russland werden gleichzeitig respektiert, gefürchtet und nicht gemocht. In keinem anderen Land passt der Bergriff „vierte Gewalt“ zu diesem Job so gut, wie in Russland. Wer dort keinen anderen Weg findet, um Gerechtigkeit zu erlangen oder Schutz zu finden, geht in die Öffentlichkeit, wendet sich an Journalisten. Für viele Leute ist die Redaktion einer Zeitung oder eines Senders die letzte Instanz. Und wenn ein Journalist sich in ein solches Schicksal einmischt, trägt er eine doppelte Verantwortung.

Vor ein paar Jahren berichtete ich von einem Mann, der zu acht Jahren im Gefängnis verurteilt worden war, ohne dass seine Schuld bewiesen war: Pädophilie lautete der Vorwurf, dessen Unlauterkeit leicht durchschaubar war. Unter den gegebenen Umständen wuchs er sich für den damaligen Milizionär und Veteranen des Afghanistankrieges zu einer Lebenstragödie aus. Nach der ausführlichen Untersuchung aller Unterlagen und mithilfe von Experten beschrieb ich schließlich meinen eigenen Standpunkt. Er war ein „Gegenauftritt“, der mit einem gewissen Risiko verbunden war, weil ich darin die Inkompetenz der ermittelnden Behörden anhand eines konkreten Falls beweisen konnte. Nach der Veröffentlichung hat das Oberste Gericht der Russischen Föderation das entsprechende Urteil außer Kraft gesetzt und den Mann freigesprochen.

Eine weitere Geschichte aus dem Alltag: Eine Frau hat auf der Straße ein einjähriges Baby entdeckt; kein Erwachsener in der Nähe. Sie hat sofort die Miliz und die Zeitung angerufen, das Baby wurde zunächst in die spezielle Abteilung für Findlinge eines Krankenhauses gebracht. Eine vom journalistischen Standpunkt aus spannende Story. Ist es ein Waisenkind, und wenn nicht: Was ist denn mit den Eltern passiert? Sucht die Familie womöglich verzweifelt nach ihrem Kind? Gibt es ein Happy End?

„Ich verbiete, das Kind für die Zeitung zu fotografieren!“, sagt nun kategorisch der Chefarzt der Klinik, obwohl dies die beste Möglichkeit wäre, die Eltern schnell zu finden. „Wir haben von der Redaktion aus Windeln und Kleidungsstücke gekauft und möchten dem Kleinen besuchen!“, sagen die Journalisten. „Sie sind keine Verwandten und dürfen überhaupt nicht rein. Nur mit der Erlaubnis des Staatsanwalts!“, sagt der Chefarzt. „Wenn sich unsere Ermittlungen weiterentwickeln, sagen wir Ihnen Bescheid. Rufen Sie in einer Woche wieder an“, sagt die Miliz. „Das geht die Zeitung nichts an. Mischen Sie sich bitte nicht ein!“, sagt das Jugendamt. Warum nur diese Geheimniskrämerei? Die Journalisten haben sich von diesem Manöver nicht abschrecken lassen, die Geschichte trotzdem bis zu Ende recherchiert, eigene, unabhängige Ermittlungen durchgeführt und in einer Serie von Reportagen in der Zeitung dargestellt.

Wenn sich die vierte Gewalt nicht eingemischt hätte, was wäre dann wohl mit dem Kind geschehen? In Russland kommt es nicht selten vor, dass Kinder inoffiziell und gegen Bares zur Adoption freigegeben werden. Oder dass nur ihre Organe verkauft werden.

Wie kommt man in Russland zum Traumjob Journalist? Die Glückspilze bestehen die Aufnahmeprüfung an der „Fakultät für Journalistik“ der Moskauer Lomonossow-Universität – einer der prestigeträchtigsten Hochschulen Russlands, auch wenn erst vor Kurzem eine heiße Diskussion in den Massenmedien geführt wurde, ob ein solches Diplom wirkliche journalistische Erfahrungen ersetzen kann. In der Praxis jedenfalls hat ein solches journalistisches Diplom für die Arbeitgeber keine besondere Bedeutung. Viele kommen aus anderen Berufen – es sind Historiker, Psychologen, Lehrer – und sind genau so gut, auch weil sie sich eben in diesen Bereichen gut auskennen. Die Dritten haben gar keine Hochschulausbildung und machen trotzdem Karriere, weil sie begabt sind.

Das Aufnahmegespräch zwischen den Chefredakteur und dem Journalisten funktioniert meist so: Zeig mal, was du kannst – und sag, was du dafür willst. Wer zum ersten Mal in die Redaktion kommt, muss frech, sicher und mutig sein. Als Anfänger wird man wie ein halbblindes Kätzchen ins Wasser geworfen. Immer siegt der Kräftigste.

Ich erinnere mich an eine meiner ersten Aufgaben. Ich musste einen Bericht über einen Verbrecher vorbereiten, der gerade verhaftet worden war. „Kopf hoch, und ergibt dich nie!“, empfahl mir ein erfahrener Redakteur.

Der leitende Ermittler der Miliz jagte mich zum Teufel, schon am Telefon. Er war schlecht gelaunt und wollte keine Informationen herausrücken. Innerhalb einer Stunde stand ich vor ihm, in seinem Büro, was ihn nicht gerade erfreute. Er war wütend. Die Rechtspflegeorgane in Russland mögen Journalisten nicht besonders. Zuerst bat ich ihn um einen Kommentar. Ich appellierte an sein Gewissen! Dann empörte ich mich darüber, dass er die Arbeit der Presse behindere, wo doch die Pressefreiheit der Gesellschaft so sehr am Herzen liege. Dann weinte ich laut und erzählte, dass ich mein Job verlöre, wenn ich keine Geschichte mitbringen würde. Letzten Endes wurde ich, damals sechzehn Jahre alt und mit echten Tränen in den Augen, rausgeschmissen.

Aber trotzdem, durch einen Zufall, habe ich es am Ende geschafft! Ich lernte im Korridor einen netten jungen Milizionär kennen, der ganz schnell für mich alles recherchierte und meinen Artikel rettete. Aus Mitgefühl.

Über die für uns alltäglichen, selbstverständlich gewordenen Sicherheitsmaßnahmen in den Redaktionen wundern sich nur ausländische Journalisten. In Deutschland kommt man ruhig in jeder Redaktion einfach rein, oft ohne sich auch nur anzumelden. Hünenhaftes Wachpersonal vor der Tür, für Besucher extra vorbereitete provisorische Ausweise, die nur mit dem Pass zusammen gültig sind, Metallsuchgerät und persönliche Durchsuchung – so sieht es am Eingang einer Moskauer Zeitung aus. Aus Sicherheitsgründen parkt der Chefredakteur, zusammen mit seinem Begleitfahrzeug, nicht vor dem Redaktionsgebäude, sondern nutzt über den Hinterhof den Nebeneingang. Zu diesem Zeitpunkt wird die Haupttür geschlossen, damit keiner der Besucher erkennen kann, wer gerade das Büro betreten hat.

Auch die anderen Journalisten müssen geschützt werden – im alltäglichen Leben. Gerade im Eingangsbereich der Zeitung kommt es häufig zu Übergriffen auf Autoren. Durch unzufriedene Leser, beleidigte Protagonisten.

Vor Kurzem habe ich ein internationales Zertifikat als professionelle Journalistin ausgestellt bekommen. Eine der obligaten Voraussetzungen war eine Lebensversicherung für den Todesfall in Ausübung meines Berufes.

XENIA MAXIMOVA, Jahrgang 1983, lebt und arbeitet als Journalistin in Moskau. Zurzeit ist sie im Rahmen eines Stipendiums der Marion-Dönhoff-Stiftung in Deutschland