Der öffentliche Mann

Kürzlich ist der R‘n‘B-Star R. Kelly wegen Sex mit Minderjährigen und des Besitzes von Kinderpornografie verhaftet worden. So ein Vorwurf ist dem Geschäft bekanntlich eher abträglich. Umso überraschender, dass der Skandal dem Erfolg seines neuen Albums „Chocolate Factory“ nicht geschadet hat

Doch mit „Chocolate Factory“ hat er der Welt ein Meisterwerk des Soul geschenkt

von TOBIAS RAPP

Was für eine Tragödie. Er ist einer der größten Songwriter der Gegenwart. Ein Mann, der nicht nur viele Millionen Platten verkauft hat, sondern der Welt einige der schönsten Liebeslieder der vergangenen Jahre geschenkt hat. Ein Mann, der gute Chancen hat, jede Frau durch die schiere Verführungskraft seiner Musik zwischen die Laken zu bekommen. Und was macht er? Glaubt man der Staatsanwaltschaft von Chicago, dann hat er Sex mit minderjährigen Mädchen gehabt und sich dabei gefilmt. Die inkriminierten Videobänder sollen auch manch unappetitliche sexuelle Details dokumentieren: Die Rede ist von R. Kelly.

Im vergangenen Juni war er festgenommen worden, nachdem Videobänder aufgetaucht waren, die einen Mann, der R. Kelly auffallend ähnlich sehen soll, beim Sex mit einer 13-Jährigen zeigten. Vor kurzem, pünktlich zur Veröffentlichung seines neuen Albums „Chocolate Factory“, wurde er in einem Hotel in Miami noch einmal wegen des Besitzes von Kinderpornografie verhaftet. Ein Termin für den Prozess ist noch nicht angesetzt. Sollte R. Kelly aber schuldig gesprochen werden, drohen ihm bis zu 15 Jahre Gefängnis.

Nun gehören Konflikte mit dem Gesetz zu den traurigen Konstanten im US-amerikanischen Unterhaltungsgeschäft. Im HipHop ist der Gerichtstermin oft der wichtigste Auftritt, um eine Platte anzukündigen. Und auch eine Diva wie Whitney Houston sorgte in den vergangenen Jahren mit ihren Drogen-Eskapaden für mehr Schlagzeilen als mit ihrer Platte, von den bizarren Auftritten Michael Jacksons ganz zu schweigen. Gerne und ausführlich werden solche Geschichten dann von den Künstlern auf ihren jeweiligen Platten zum Thema gemacht.

Davon allerdings sieht R. Kelly in seinem neuen Werk völlig ab. Stattdessen ist „Chocolate Factory“ ein Soul-Album von klassischer Eleganz geworden. Die Songs borgen ihren Aufbau, ihre Harmonien und ihre Themen beim Motown-Soul der Sechziger (und nicht nur das: die Streicher von „Forever“ sind von Paul Riser arrangiert, der schon für die Streicher von „Papa Was A Rolling Stone“ verantwortlich war). Dass sich das niemals rückwärts gewandt anhört, liegt nicht zuletzt an dem eigentümlichen Gesangsstil R. Kellys. Zwar ist er tief in der Soul-Tradition verwurzelt – sowohl Al Green als auch Marvin Gaye zitiert er bis in ihre Art der Phrasierung hinein. Doch wie er Rezitiertes und Gesungenes verbindet, das ist völlig eigen. Wie schon auf seinen vergangenen Alben hat Kelly sämtliche Songs selbst geschrieben und selbst produziert.

Wenn Kelly auf seinem letzten Album „TP-12.com“ fast ausschließlich über das Party- und Sexleben als schwarzer Soul-Übermann gesungen hatte – weit über die Grenze der Selbstparodie hinaus –, ist „Chocolate Factory“ wesentlich introspektiver.

Zu lieben heißt für R. Kelly zu leiden, Nähe stellt sich für ihn nur über Verlust her. Da gibt es ein Stück wie das umwerfende „You Made Me Love You“, eine an Al Green erinnernde Etüde auf das Thema Ich-wollte-mich-nie-wieder-verlieben-bis-sie-meinen-Weg-kreuzte. „Heart Of A Woman“ ist eine Hymne an die Herzen all der Frauen, die Männern noch immer über den Weg trauen („This one is dedicated to all of the ladies from all of the men / Simply because you‘re going through so much“). Mit „Showdown“ gibt es aber auch ein reichlich bizarres Duett mit Ronald Isley, dem Sänger der Isley Brothers, das von Eifersucht und einem Duell vor den Toren der Stadt handelt.

Anspielungen auf den gegenwärtigen Skandal sucht man hingegen vergebens: Es gehört jedenfalls schon einiger Projektionsaufwand dazu, um die ersten Zeilen der aktuellen Hitsingle „Ignition“ als Metapher auf die sexuelle Erweckung einer Minderjährigen zu lesen („Please let me stick my key in your ignition, baby“). Und ein Stück wie „Heaven I Need A Hug“, das von existenzieller Einsamkeit handelt und davon, dass die Welt ungerecht und gemein sein kann, wenn die eigene Mutter im Himmel ist, könnte man als Lied über die Einsamkeit des sich ungerecht behandelt fühlenden Superstars deuten – wären dies nicht Themen, die sich schon immer in R. Kellys Werk fanden.

Gleich nach Erscheinen schoss „Chocolate Factory“ in den US-amerikanischen Album-Charts von null auf eins und verkaufte sich in der ersten Woche über eine halbe Million Male. Erstaunlicherweise scheint der Skandal um R. Kelly dessen Karriere bislang nicht im Geringsten geschadet zu haben.

Sollte er schuldig gesprochen werden, drohen R. Kelly bis zu 15 Jahre Gefängnis

Woran mag es liegen, dass ein Künstler trotz so schwerer Vorwürfe noch solchen Erfolg haben kann – ausgerechnet in den USA mit ihrer so strengen öffentlichen Moral? Ist es das tiefe Misstrauen in die US-Justiz, das in der schwarzen Community – aus der sich die meisten R.-Kelly-Fans rekrutieren – automatisch zu einem Verteidigungsreflex zu führen scheint?

Tatsächlich tut man sich dort schwer, sexuelle Gewalt von schwarzen Männern ernst zu nehmen, geschweige denn zu verurteilen. Marc Anthony Neal, ein Musikkritiker und Professor für Black Studies an der State University of New York in Albany, hat vor nicht allzu langer Zeit noch einmal darauf hingewiesen, dass es mittlerweile zwar mehrere Generationen afroamerikanischer Feministinnen gibt, ihre Ideen in der schwarzen Community jedoch noch immer auf großen Widerspruch träfen. Dabei sei die Liste der „dämonischen schwarzen männlichen Genies“ wie Neal sie nennt, lang: Nicht nur R. Kelly, auch James Brown, Dr. Dre, Bill Withers und Miles Davis, um nur die berühmtesten zu nennen, haben sich gravierender Verfehlungen gegen Frauen schuldig gemacht.

Viele Indizien sprechen für den Wahrheitsgehalt der Vorwürfe gegen R. Kelly: Nicht zuletzt die Tatsache, dass er in den frühen Neunzigern die damals 15-jährige Sängerin Aaliyah heiratete, spricht für eine fehlende Scheu vor Altersgrenzen. Doch was genau in R. Kellys Schlafzimmer passiert ist, das wissen nur die Beteiligten. Als Außenstehender kann man nur feststellen, wer vom Skandal alles profitiert. Da sind diejenigen, die das Sex-Tape unters Volk brachten und sich mit dem Verkauf an den Straßenecken eine goldene Nase verdient haben dürften (auch hier geht das Gerücht, es seien Leute aus dem Umfeld des Sängers gewesen, die Rechnungen mit ihm offen hatten). Da gibt es diverse Boulevardblätter und Fernsehmagazine, die mit ihrer Empörung Auflage und Quote steigern. Und nicht zuletzt sind da auch die Familien der Mädchen, die kein Problem damit hatten, ihre Töchter mit dem Superstar alleine zu lassen, dessen Vorliebe für Minderjährige schon seit Jahren ein offenes Geheimnis ist, und die nun auf millionenschwere Schmerzensgelder spekulieren dürfen. Was die Mädchen über all das denken, ist nicht bekannt.

Am Ende liegt der ungebrochene Erfolg von R. Kelly – so negativ die Sympathiewerte für ihn als Person auch sein mögen – aber wahrscheinlich vor allem in der Tatsache begründet, dass er der Welt mit „Chocolate Factory“ ein Meisterwerk von klassischer Größe geschenkt hat. Das wirft auch ein klärendes Licht auf den Fall Michael Jackson. Seit Jahren versucht der ehemalige King of Pop, sich selbst und die Öffentlichkeit mit immer wirrer werdenden Verschwörungstheorien davon zu überzeugen, die sinkenden Verkaufszahlen seiner Platten seien darauf zurückzuführen, dass Details aus seinem Privatleben in der Presse breitgewalzt würden. Dass sein kommerzieller Absturz eher auf die Qualität seiner letzten Alben zurückzuführen sein könnte – dieser Gedanke ist Michael Jackson noch nicht gekommen.

R. Kelly: „Chocolate Factory“ (Jive)