Mondsicheln im Kopf

Matthias Witt denkt in geometrischen Konstruktionen und leitet aus 30.000 Jahren alten Höhlenmalereien Prinzipien einer abstrakten Reflexion her. Bislang stößt der Trickfilmzeichner bei Wissenschaftlern auf Unverständnis

Wenn das stimmt bricht unsere Vorstellung vom genialisch-kreativen Steinzeitkünstler zusammen

von HEINZ-GÜNTER HOLLEIN

Matthias Witt ist gewohnt, in kleinen Schritten zu arbeiten. Matthias Witt ist Trickfilmzeichner. 150 Kurzfilme mit seinem kleinen gelben Raumschiff – „Spacee, aber außer mir weiß niemand, dass es so heißt“ – liefen und laufen immer noch in der „Sesamstraße“. Punkt, Gerade, Kreuz – Kreis, Quadrat, Dreieck: das sind die Bausteine, aus denen seine visuelle Welt entsteht. „Geometrische Vorkonstruktionen“, die am Ende – wenn das animierte Wesen lebt – nur noch der Kundige als Anhaltspunkte in der Figur erkennt.

Schon als Kind – „mein Vater war Diplom-Ingenieur“ – und später, als Student der Fächer Kommunikationstheorie und -design an der Fachhochschule für Gestaltung in der Armgartstraße, lernte Witt, solche Vorkonstruktionen zu erkennen: bei Autos, an Häusern, in Gemälden. Als im Januar 2002 im Gefolge der Kirch-Pleite neue Zeichenaufträge ausblieben, nutzte Witt die Zeit, um die Ursprünge dieses Motivs zurückzuverfolgen. Und fand sich bald auf der Spur seiner zeichnerischen Urahnen, der Gestalter der jungsteinzeitlichen Höhlenmalereien, die vor 30.000 Jahren begannen, mit ihren spektakulären Bildwelten die Felswände von Altamira, Lascaux oder Chauvet zu füllen.

Das Feld für die Deutung der steinzeitlichen Bildwelten ist immer noch weit offen. Erklärungsversuche gibt es beinahe so viele wie es Höhlenforscher gibt. Einigkeit besteht allerdings darüber, dass es sich um Malereien von einer Plastizität und aufs Wesentliche reduzierten Linienführung handelt, deren formale Modernität atemberaubend ist.

„Wir haben nichts Neues erfunden,“ soll Pablo Picasso angesichts der ersten Bilder aus Altamira gesagt haben. Kein schlechter Kronzeuge für einen 45-Jährigen aus Allermöhe, der überzeugt ist, in den Tausenden von Mammuts, Pferden, Punkten, Handabdrücken und Zeichen die Prinzipien einer abstrakten Reflexion nachweisen zu können. Als Mitteilung über den Zusammenhang zwischen Raum, Zeit und Natur, „so wie er gewusst und geglaubt wurde“.

Nach Matthias Witt liest sich eine Darstellung wie der „Uhu“ aus der Grotte Chauvet (ca. 30.000 v.u.Z.) so: Der Uhu ist ein Nachtflugwesen wie der Mond. Die zwei Mondsicheln des Kopfkreises (abnehmend, links und zunehmend, rechts) geben in einem Ewigkeit symbolisierenden Zeitquadrat das Jahr vor, innerhalb dessen der Mond auf zwölf verschobenen Streifen, den Monaten, seine Bahnen zieht, die in den zwölf Streifen des Vogelkörpers angegeben sind. Der Körper- oder Lebenskreis, dessen Größe dem geschlossenen Mond entspricht, wird nachts von unten von einem 60-Grad-Winkel „angestrahlt“, dem Sonnendreieck, von dessen Licht die lebensspendende und -regulierende Kraft der Mondzyklen abhängt.

So ist Witt daran gegangen die bildliche Hinterlassenschaft der Jungsteinzeit auf eine mögliche zu Grunde liegende Grammatik hin abzuklopfen. Witt vermutet in diesen gedachten geometrischen Vorkonstruktionen den Schlüssel zu einer Kommunikation mit einer Kraft oder einem Wesen, das für die Steinzeitler die Existenz an sich bewirkte. Und zwar in eben den Vokabeln, die diese Kraft in ihren natürlichen Erscheinungsformen vorgab. Er ist überzeugt; dass Kreis und Kreisbogen für den lebensbestimmenden Bereich des Mondes stehen, das Dreieck für die Winkelstrahlen der Sonne, die den Trabanten auch nachts erhellt, und das Quadrat mit seinen Unterteilungen für das Abstraktum schlechthin: die Zeit.

„Wenn das stimmt“, bekam Matthias Witt von Dr. Michael Merkel vom Harburger Helms-Museum zu hören, „dann bricht unsere ganze, lieb gewordene Vorstellung vom genialisch-kreativen Schöpfertum der Steinzeitkünstler zusammen“. „Aber warum eigentlich?“, fragt sich Matthias Witt. Auch Bach komponierte nach mathematischen Prinzipien, die sich dem Hörer heute nur noch unbewusst mitteilen. Ist seine Musik darum nicht erst recht genial? Immerhin, der Harburger Museumsmann ist beeindruckt: Zwar steht er Witts allumfassendem Erklärungsanspruch eher skeptisch gegenüber, aber Witts Beobachtungen zum bisher kaum untersuchten Bildaufbau der Höhlenbilder seien „ein spannender Ansatz, den aufzugreifen sich lohnen könnte.“ Ob es sich dabei um die Thesen eines Fachgelehrten oder eines Laien handele, spiele keine Rolle, sagt Merkel. In der Tat verdankt die Archäologie einige ihrer größten Erfolge der Energie und der Inspiration von Außenseitern: Der Kaufmann Heinrich Schliemann fand Homers Troja, der Architekt Michael Ventris “knackte“ 1952 den Schlüssel zur kretischen Linear-B Schrift.

Schwerer hingegen wiegt der Einwand von Prof. Helmut Ziegert, Emeritus für Vor- und Frühgeschichte des Menschen an der Uni Hamburg. Ihm seien, teilte er Matthias Witt mit, aus seiner jahrzehntelangen Forschungspraxis keine Hilfsmittel bekannt, mit der die Jungsteinzeitler geometrische Konstruktionen hätten durchführen können. Matthias Witt verweist dagegen auf eine Dissertation von Michael Rappenglück aus dem Jahr 1998 – „Eine Himmelskarte der Eiszeit“ – die ein erhebliches geometrisch-mathematisches Wissen ihrer Hersteller voraussetzt. Die 1994 verstorbene Professorin für Archäologie an der Universität von Kalifornien, Marija Gimbutas, meinte sogar, dass in den Mustern der Steinzeit ein „Alphabet des Metaphysischen“ vorliegen könne. Und der Doyen der Höhlenkunstforscher, André Leroi-Gurhan, glaubte am Ende seines Lebens, „dass sie in Lascaux einem Alphabet sehr nahe gekommen waren.“

Solche Thesen sind selbst unter Archäologen alles andere als unumstritten. Und nun kommt also Matthias Witt, Trickfilmzeichner aus Allermöhe, und glaubt, mit Kreis, Quadrat und Dreieck, den Schlüssel zu einer 30.000 Jahre alten Bildwelt gefunden zu haben. Natürlich nicht einfach so. Vier Stunden, um sich wieder in das gestern gedachte hineinzufinden, vier Stunden, um es weiterzudenken. Tag für Tag, ein Jahr lang, 3.000 Stunden insgesamt. Eine Arbeitsintensität, von der ein Universitätsgelehrter nur träumen kann. „Studieren Sie doch einfach,“ wurde Witt denn auch von einem Fachgelehrten beschieden, „dann können Sie Ihre These als Dissertation veröffentlichen.“ Nur dauert ein Archäologie-Studium gute acht Jahre, und außerdem hat Witt seine „Doktorarbeit“ – 400 Seiten, auf denen er die Entwürfe der Höhlenmaler rekonstruiert – schon fertig.

Das Werk ist nicht ohne Opfer in die Welt gekommen. Eine Partnerin hat Witt nicht. Er ist sich schon darüber im Klaren, „dass ich mein Leben anders führe als andere.“ Es sei jene Konstellation aus „geometrischer Prägung“ durch den Vater, der Ausbildung in Kommunikationstheorie und der Phantasie und Praxis als Schöpfer bewegter Figuren gewesen, die vor drei Jahren die Initialzündung ausgelöst hätten. Witt wohnt bei seinen Eltern, in der Garage hat er zwar ein Auto, „aber kein Geld fürs Benzin“. Seine Eltern, werden – ob der „nicht unerheblichen finanziellen Belastung“ – ein wenig ungeduldig.

Witts Hoffnung ist ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft, nach deren Richtlinien auch „akademisch begleitete“ Forschungsvorhaben von Privatpersonen förderbar sind. Aber Voraussetzung dafür ist ein positives Gutachten durch einen Fachwissenschaftler. Und wie Witt weiß, braucht es ungefähr vier Wochen, um sich durch seine 400 Seiten zu arbeiten. Beim Rowohlt-Verlag sei man von seinem Exposé durchaus angetan gewesen, auch der Spiegel wäre nicht abgeneigt, seine Erkenntnisse zu veröffentlichen. Vorausgesetzt, Witt bringt ein Seriosität signalisierendes Plazet durch einen Prähistoriker bei.

Witt wartet. Mittlerweile hat er seine Methode auf den „Diskus von Nebra“ angewendet, jene „nur“ 3.600 Jahre alte Bronzescheibe, die im vergangenen Jahr als archäologische Sensation durch die Weltpresse ging. Witt hingegen sieht in der Scheibe weniger eine „astrale Revolution“, sondern den in Bronze fixierten Endpunkt einer Überlieferung von Wissen, dessen Spuren er in den Anfängen der Jungsteinzeit – und vielleicht sogar noch früher – nachweisen zu können glaubt. Er ist sicher, dass der Scheibe ein stringentes System von geometrischen Bezügen zu Grunde liegt, die sie für Eingeweihte zu einem Astrolabium, einem Himmelssextanten machte.

Er schickte seine Ausführungen dem Prähistorischen Institut der Universität Jena. Und er bekam Antwort. Seine Beobachtungen, schrieb ihm Professor Dietrich Mania, „die sind so wichtig, nicht nur interessant“, dass man sie unbedingt diskutieren müsse. Allein, Professor Mania ist Steinzeit-Fachmann, für die Bronzescheibe „zuständig“ sei Dr. Harald Meller vom Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle. Dem möge Witt doch seine Überlegungen mit einer Empfehlung von Prof. Mania zukommen lassen.

Seitdem wartet Witt wieder. Am 23. Oktober findet im Helms-Museum ein Vortrag von Harald Meller zur Himmelscheibe von Nebra statt. Witt hofft auf eine Chance, dem Archäologen seine Theorien darlegen zu können. Im April sollte Witt bei einem neuen Trickfilmprojekt einsteigen. Durch die Kirch-Krise hat sich auch hier alles verschoben. Nun soll es – von einem 6-wöchigen Kurzauftrag abgesehen – erst im Herbst losgehen. Auf eine Art ist Witt dem Leo Kirch für seinen Bankrott durchaus dankbar.