: Häuserkampf für den Frieden
DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER
Jedes Mal, wenn ich an Luzern vorbeikomme, warte ich auf die kleine Gartenkolonie. Es wachsen keine Bäume dort, denn für Bäume sind diese Gärten viel zu klein. Aber fast alle haben in ihrer Mitte einen großen, baumlangen Fahnenmast. Das hat genau drei Gründe. Nur nach oben sind diese Gärten unbegrenzt, außerdem nimmt ein Mast nicht so viel Platz weg wie ein Baum, und drittens ist der Mast gewissermaßen die Bestimmung des Baumes. Seine von allem Blattplunder befreite Endgestalt. An den vielen Mastspitzen aber wehen lauter Schweizer Fahnen. Ein Mitreisender, der die Schweiz nicht leiden kann, weil sie ihn so an die DDR erinnert, hat gerade den bekannten Schweizphobiker Oscar Wilde gelesen: Die Schweiz habe nichts hervorgebracht außer Pfarrern und Kellnern.
Die DDR hat aber keine Kellner hervorgebracht, nur Pfarrer, wollte ich gerade beginnen, als sich ein vollkommen unerwartetes Bild bot. Statt Schweizer Fahnen wehten über der Luzerner Kleinstgartenkolonie fast überall Regenbogenfarben-Fahnen mit vier großen, weißen Buchstaben in der Mitte: „PACE“. Da wussten wir, dass wir noch einmal ganz von vorn über die Schweiz nachdenken mussten. Und nun hörten die Fahnen gar nicht mehr auf. In Airolo hinter dem Gotthardtunnel lag noch Schnee, aber die Regenbogen-„Pace“-Flaggen wehten. Sie wehten bis nach Italien hinein, an Hochhäusern, Bauernhäusern, Bahnhofshäusern, an baufälligen Balkonen und Villen. Sie wehten von Como über Genua bis Corniglia.
Corniglia ist der dritte Ort der Cinque Terre, eine Hand voll Häuser, auf einen Felsen überm Meer geklebt. Auf den ersten Blick also ein vollkommen unpolitischer Ort. Doch auch hier ist es dasselbe. Fast jedes Fenster ist ein politisches Fenster, fast jeder Balkon ein politischer Balkon. Es gibt auch Anti-Berlusconi-Weinberge und Anti-Bush-Garagen. Manche Flaggen hängen mit Klammern an der Wäscheleine. Amerikaner, die auf der Suche nach dem alteuropäischen Geist das alte Europa durchstreifen, blicken betont gelassen auf diese „antiamerikanischen“ Kundgebungen.
Es ist wie ein stummer Volksaufstand. Eine Demonstration seines Eigenwillens. Diese Macht der Fahnen haben wir nicht geahnt. Früher in der DDR war alles genau andersrum. Auch damals zerfielen die Menschen in zwei Gruppen. Es gab die mit Fahne und die ohne Fahne. Die, die am 1. Mai ihre DDR-Fahne aus dem Fenster hängten, und die anderen. Manche hatten auch zwei Fahnen, eine DDR-Fahne und eine rote. Das waren die, denen nicht mehr zu helfen war. Denn wer flaggte, machte sich lächerlich. Denn das Fahne-aus-dem-Fenster-Hängen war eine Devotionsbekundung, die keiner verlangen durfte. Überall, aber doch nicht in der eigenen Wohnung!
So gesehen ist die DDR noch immer eine tief bürgerliche Gesellschaft geblieben. Die Macht des Staates endete spätestens an der eigenen Haustür. Auch jetzt endet sie an der eigenen Haustür, nur auf ganz andere Weise. Italiens Städte und Dörfer befinden sich in einer Dauerdemonstration mit Häusern als Hauptaktivisten. Und die Häuser machen, was wir auf jeder Demo auch tun: widerständlerisch in der Gegend rumstehen.
Corniglia hat eine einzige Straße, und am Ende der Straße ist der Abgrund. Darunter das Meer. Überm Abgrund – das ist ein guter Ort zum Zeitungslesen. Der Italiener Giorgio Agamben schreibt, ein uneingestandener – aber deswegen nicht zweitrangiger – Grund für den Irakkrieg sei die Absicht gewesen, Europa zu schwächen. „Da Europa eine wirtschaftliche Macht geworden war, die die Überlegenheit der Vereinigten Staaten bedrohte, wollten diese beweisen, dass Europa keinerlei politische Existenz besaß.“ Die amerikanische Diplomatie, sagt Agamben, hat offen daran gearbeitet, die politische Einheit Europas zu zerstören – und es sei ihr leider gelungen. Ich schaue hoch und sehe die Pace-Fahnen – dabei ist Bagdad nun schon seit zwei Wochen gefallen. Teilung Europas? Eher ist es eine überwältigende Einheit. Vielleicht wächst Europa ja erst jetzt zusammen.
Die „Pace“-Flaggen dort, wo Corniglias einzige Straße plötzlich zu Ende ist, sind nur vom Meer aus zu sehen. Also tragen sie eine überseeische Botschaft. Frank Schirrmacher hat letzte Woche im FAZ-Feuilleton eine launige Landkarte veröffentlicht. Die Karte zeigt, wie man von Berlin-Mitte nach Bagdad kommt, mit allen Abzweigen. Wahrscheinlich fand Schirrmacher das witzig. Der Hobbykartograf wollte uns nahe bringen, dass Bagdad jetzt gewissermaßen zu uns gehört. Dass es uns nah ist, so wie die einstigen Länder hinter dem Eisernen Vorhang nahe kamen. Sagt Schirrmacher. Nähe als mentales Phänomen. Jetzt, wo die Saddam-Denkmäler gestürzt sind. Bildersturm als Völker verbindendes Moment. Eine ziemlich archaische Wahrnehmung.
Aber Schirrmacher hat Recht, die Achse Corniglia–Bagdad steht. Überhaupt sollte sich eine künftige Weltordnung an Corniglia orientieren. Unbeugsames freiheitlich-bürgergesellschaftliches Engagement, Oliven, Zitronen plus Solidarität mit den Nachbarn. Denn in Corniglia funktioniert sogar der Sozialismus. Die LPGen heißen hier „Cooperative Cinque Terre“. Besonders beeindruckend aber ist der gelassene Umgang mit dem Fundamentalismus. Der Dorf-Achtundsechziger betreibt eine Weinbar, aus der allnächtlich Revolutionslieder über „unseren Comandante Che Guevara“ auf die Straße dringen, dazu verkauft er Diktatoren-Weine. Es gibt Marx-, Lenin- und Fidel-Castro-Weine, alle sehr rot. Die amerikanischen Touristen lächeln neutral.
Der „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“-Wein ist eher weiß, aber wir haben ihn nicht getrunken. Als der legendärste Freitag im Kalender der Christenheit nahte, machte sogar der Dorfachtundsechziger seine Comandante-Che-Guevara-Songs leiser und räumte die Dikatorenweine weg. Überall an der einzigen Straße des Ortes brannten die Kerzen, und ihre Bewohner trugen laut singend ein geschultertes Holzkreuz, einen überlebensgroßen Jesus im Prunkbett und einen Riesenbaldachin für den Heiligen Geist. Sie schafften ihn von der Kirche am Ende der einzigen Straße bis zum anderen Ende der einzigen Straße, dem Abgrund überm offenen Meer. Wollten sie also wirklich den Heiland dem Meeresgott Poseidon opfern?
Die Corniglianer trugen den Jesus wie die Muslime im Fernsehen ihre Märtyrer. Überhaupt musste dieser nächtliche Ausflug Jesu ans Meer jedem gewöhnlichen arabischen Atheisten wie ein Umzug religiöser Fanatiker vorkommen. Eine einzige Straße organisiert eine so gewaltige Prozession! Zum Schluss haben sie ihren Jesus dann doch nicht Poseidon geopfert. Aber sie feierten noch die ganze Nacht vor Freude, es sich anders überlegt zu haben.
Am nächsten Morgen waren aus den vermeintlichen religiösen Fanatikern wieder freundliche Italiener geworden. Nun haben wir fast keine Angst mehr vor dem religiösen Fundamentalismus. Die Tageszeitung Il Seculo XIX („Das 19. Jahrhundert“) meldet, dass in Bagdad Massendemonstrationen stattfinden mit Transparenten wie „No Bush – No Saddam. Yes, Yes for Islam“. Corniglia würde sich seinen Katholizismus schließlich auch nicht wegnehmen lassen. Aber wieso heißt eine Tageszeitung des 21. Jahrhunderts Das 19. Jahrhundert?
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