„Verdrängen klappte nicht mehr“

Die Kölner Familientherapeutin Irene Wielpütz, 52, über die seelischen Wunden der deutschen Kriegskindergeneration und wie der Irakkrieg sie wieder aufbrechen ließ

taz: Frau Wielpütz, die Kriegskindergeneration in Deutschland war Opfer. Haben diese Menschen auch Tätergefühle?

Irene Wielpütz: Natürlich. Und schämen sich deshalb für ihre Leiden – andere, die Juden etwa, haben ja viel mehr gelitten. Viele haben Traumatisches erlebt, das über ihre Kräfte geht. Auffallend ist, dass es gerade in dieser Generation ein hohes Maß an psychosomatischen Erkrankungen gibt: Magengeschichten, Herzbeschwerden, nervöse Störungen. Und keiner weiß den Grund. Kriegskinder brauchen sehr lange, bis sie sich dem stellen. Und darüber reden wollen. Das passiert jetzt vielfach.

Warum gerade jetzt?

Es sind oft Menschen, die immer besonders tüchtig und zuverlässig waren. Jetzt, nach dem Arbeitsleben, ist nichts mehr zu tun. Da fallen manche in ein Loch oder werden sogar depressiv. Manch einer fängt an, sein Leben zu bilanzieren. Ein wichtiger Auslöser war der Kosovokrieg. Sie sahen die Bilder, plötzlich erinnerten sie sich, die Verdrängung klappte nicht mehr, manche hatten Albträume. Sie sahen Dinge, die sie selbst erlebt haben, vor über 50 Jahren.

Welche Rolle spielte der Irakkrieg? War das eigene Erleben des Kriegsgrauens ein Grund für die intuitive Ablehnung?

Ja, es waren überraschend viele Alte unter den Kriegsgegnern. Wenn ich mit denen spreche, sagen sie oft: Ich mochte da gar nicht hingucken. Es war so unsäglich, ich fühlte mich so hilflos. Da war eine massive Ablehnung.

Dann hatte also, zynisch gesagt, der Irakkrieg sein Gutes: Er hat geholfen, alte Blockaden aufzulösen …

Es ist schrecklich, wenn jemand einen Krieg braucht, um das aufzubrechen. Aber es löst eine Menge aus, keine Frage.

Viele Ältere sind aus Protest gegen die Merkel-Linie aus der CDU ausgetreten.

Das fand ich beeindruckend. Viele haben sich schon im Kosovokrieg politisch engagiert in der Frage, ob sich Deutschland beteiligen sollte. Über den Irakkrieg waren viele empört. Und hilflos. Also wurde gar nicht viel drüber geredet. Man sagte nur: Das darf nicht sein. Ich will das nicht.

Auch Psychologen haben das Kriegskinderthema oft vergessen. Oder ignoriert.

Ja. Sie haben nichts gesehen. Weil sie nichts gesucht haben. Viele spätere Therapeuten waren ja selbst aus dieser Generation. Hier in Deutschland waren alle froh, dass die Zeit vorbei war. Seelische Verletzungen werden ja auch nicht so leicht gesehen wie etwa konkrete Verletzungen im Irakkrieg. Da sah man Bilder verletzter und schreiender Kinder. Die ältere Generation weiß, was das seelisch bedeutet.

INTERVIEW: BERND MÜLLENDER