Glaube als Passion

„Vater unser“ ist das erste Theaterstück von Ulrich Seidl. Es lässt den Glauben an den Glauben ausgerechnet in der Berliner Volksbühne landen

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Das Kreuz ist ihm nahe. Mindestens als kompositorisches Element. Schon lange baut Ulrich Seidl, Regisseur aus Österreich und bisher vor allem für unbarmherzige Alltagsbeobachtungen bekannt, seine Bilder streng auf Achse. Klare Zentralperspektiven und gerade Horizonte. Da wird, wer redet, frontal von der Kamera erfasst und am unteren Rand mittig ins Bild gesetzt, dass schon der Raum allein auf ihm lastet wie ein Zuviel – mehr, als man tragen kann. Bewegungen dagegen durchschneiden das Bild horizontal. Das ist eine Form, die Halt gibt. Und das brauchen seine Protagonisten, die Seidl von sich erzählen lässt und die in der Regel äußerst elend dran sind – ob sie einsame Busenfetischisten sind („Der Busenfreund“), Vorstadtbewohner („Hundstage“) oder Betende („Jesus, du weißt“). So betrachtet sind alle seine Stoffe Passionsgeschichten.

Jetzt hat Ulrich Seidl sein erstes Theaterstück an der Berliner Volksbühne inszeniert: „Vater unser“, Premiere am Aschermittwoch. Da ist die Bühne zusammengedrückt zu einem schmalen Ausschnitt, fahl von Neonlicht. Gebaut hat den Andachtsraum eines Flughafens Bert Neumann, der Bühnenbildner der Volksbühne, auf dessen Einladung Ulrich Seidl an das Haus gekommen ist. „Vater unser“ beginnt mit einem Rosenkranz: Sieben Personen beten im Chor, „Gegrüßet seist du, Maria“. Eine kleine Sprachfläche, die sich immer wiederholt. Ein Ritual, das die sieben zusammenhält. Die dann in ihren Gebeten und Bekenntnissen über zwei Stunden lang hoffnungslos auseinander fallen.

Man hört ihnen zu und nimmt Anteil. Sie reden ohne Umwege. Sie öffnen sich Gott in einer Schutzlosigkeit, die sie den Menschen gegenüber nicht riskieren würden. Suchen seine Liebe, vertrauen sich ihm an in Ehekrisen (Maria Hofstätter). Beschimpfen ihn als Arschloch, der sie wieder hat durch die Bewerbung fallen lassen (Herbert Fritsch). Suchen Trost in der Angst vor dem Tod in Einsamkeit (Regine Zimmermann). Hadern mit den Eltern und mehr noch mit dem Schrecken, so zu werden wie sie. Man ist gerührt von ihrem Wunsch, immer alles richtig zu machen, auch wenn man weiß, dass dies ihr sicherer Weg in Selbstanklage und ins Unglück ist. Das Bedürfnis, sich vom Glauben der Personen zu distanzieren, weil sich in ihm auch der ganze ideologische Bombast von Opfer und Erlösung, von internalisierter Schuld und Selbstbestrafung eingebrannt hat, verliert sich bald.

Vielleicht ist die größte Überraschung: Wie einfach das Verständnis plötzlich scheint. Fast könnte man glauben, dem Leben unmittelbar beizuwohnen. Aber nur fast. Denn dass man über der Empathie mit den Personen die Fragen vergisst, warum nun gerade der Glaube in dieser Anstalt der Ideologiekritik so ungebrochen auf die Bühne kommt, davor bewahrt einen der „Chef“. Bernhard Schütz spielt ihn, den Sicherheitschef des Flughafens, der Bodenpersonal und Putzfrauen im Gebet belauscht. Der die Eindeutigkeit ihrer Sprache mit Zweideutigkeiten unterläuft. Der die Innigkeit ihrer Liebe zu Gott auch als ein System des Ausschlusses anprangert. Der sich so obsessiv geißelt, dass die Lust des Schauspielers an dieser absurden Ausdrucksform mindestens so glänzt wie sein Elend. Der der Putzfrau mit ihrem Putzwasser die Füße wäscht: zärtlich, bittend und doch voller Wut über das Wissen, sich mit dieser Geste in eine Unterwerfung einzuüben, die er nicht will.

Dieses Spiel mit dem Spiel ist es vor allem, worin Seidls Theaterstück „Vater unser“ von seinem Film „Jesus, du weißt“ abweicht, der 2002 gedreht wurde und demnächst ins Kino kommt. Wie sich Bernhard Schütz aus dem Stand aufs Gesicht fallen lässt, stellt nicht nur das Theater als Theater aus, sondern auch die Rituale des Glaubens als Regelsystem einer Inszenierung. Auch der Film ist nicht ohne Bewusstsein für die Theatralität des Glaubens entstanden; aber dort verlassen die Mitspielenden diesen Rahmen nicht.

In „Jesus, du weißt“ treten Laien auf, mit dem ganzen Ernst eines persönlichen Anliegens, und sie werden nicht verraten. In „Vater unser“ übernehmen Schauspieler diese Rollen; auch sie verraten ihre Personen nicht. Wohl aber verhalten sie sich skeptisch zu dem Umstand, sich hier um der Glaubwürdigkeit willen eine fremde Realität geliehen zu haben.

In das System Volksbühne ist „Vater unser“ gestoßen wie ein fremder Planet, der zusehends Affinitäten aufweist. Zunächst scheint alles anders: Ausgerechnet der Filmemacher Seidl verzichtet auf jede Reflexion medialer Wirklichkeiten und setzt auf klares Bild und pures Wort in großer Nüchternheit. Dennoch beschreibt er darin eine Form von Rausch, ein Sichverlieren in Leidenschaft, die das Leben umfassender einschließt als der Kokainrausch, den Frank Castorf zuletzt in „Kokain“ inszeniert hat. Man findet den Zynismus nicht wieder, der hier bisher unabdingbar schien, wohl aber die Suche nach einem tröstenden und zärtlichen Umgang mit den Menschen, der fast immer gegen den Zynismus gestellt wird.

„Vater unser“ stellt nicht die Gretchenfrage. Die eigene Haltung zur Religiosität abzufragen, ist nicht die Intention Seidls. Glauben wird als Form genutzt, aber nicht bewertet. Seidl ist weniger messianisch veranlagt als etwa Christoph Schlingensief. Die Menschen, die mit Gott reden, interessieren ihn entschieden mehr als Gott. Und dies dürfte die Stelle sein, an der sich die Theologen die Hände reiben, sagen sie das doch längst.