die frauenfahrschule oder: rückwärts um die ecke von RALF SOTSCHECK
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Judith hat endlich einen Führerschein. Vorigen Donnerstag ist sie 60 geworden. Seit sie und ihr Mann, der 2002 verstorbene Schriftsteller John McGuffin, sich vor mehr als 20 Jahren getrennt hatten, bemühte sich Judith um die Fahrerlaubnis. Vorübergehend hatte sie aufgegeben, weil sie vier Mal durch die Prüfung gefallen war. Ihr war jedes Mal dieselbe Ecke zum Verhängnis geworden, da es ihr nicht gelang, rückwärts um sie herumzufahren. Sie landete stattdessen stets an der Laterne.

So machte sie den Mopedführerschein, denn mit einem Moped kann man nicht rückwärts um Ecken fahren. Der Prüfer legte die Route fest, die Judith durch das Belfaster Universitätsviertel nehmen sollte. Er selbst ging zu Fuß, denn er wollte sie unterwegs heimlich beobachten. Da er ein ungewöhnlich großer Mann war, entdeckte Judith ihn schon von weitem hinter einer Hecke. Nachdem sie an ihm vorbeigefahren war, sah sie im Rückspiegel, wie er über die Straße hetzte und eine Abkürzung nahm, um ihr an anderer Stelle erneut aufzulauern. Judith fuhr schließlich immer langsamer, weil der hakenschlagende Prüfer bereits einen bedenklich roten Kopf hatte. Nach einer halben Stunde händigte er ihr schweißgebadet den Führerschein aus.

Viele Jahre vergingen, bis Judith Mut gesammelt hatte, um es nochmal mit dem Autoführerschein zu versuchen. Vielleicht gab es inzwischen eine Direktive aus Brüssel, die das Rückwärtsfahren um Ecken verbot? Die gab es nicht: Auch in der fünften Prüfung fiel der Satz, den Judith fürchtete: „Fahren Sie rückwärts um die Ecke.“ Sie merkte gleich, dass sie wieder auf die Laterne zielte, die ihr die Sache schon vier Mal vermasselt hatte. Doch plötzlich öffnete sich die Tür des Eckhauses, und eine etwa 50-jährige Frau stürzte heraus. „Zehn Jahre lang täglich 50 Idioten, die rückwärts um diese Ecke fahren“, schrie sie. „Ich werde den nächsten verdammten Fahrschulwagen, der hier übt, in die Luft sprengen.“

Der Prüfer versuchte ihr zu erklären, dass es sich nicht um eine Fahrstunde, sondern um eine Prüfung handelte, doch das war ihr egal. „Ihr seid dieser nächste verdammte Fahrschulwagen“, brüllte sie und pfiff auf zwei Fingern. Das war das Signal für Bob, der wie ein Blitz aus dem Haus geschossen kam. Bob war ein Dobermann. Der Prüfer zog es vor, sich ins Auto zu setzen. „Fahren wir eben um die nächste Ecke rückwärts“, erklärte er Judith, die in der Zwischenzeit probiert hatte, die Laterne beiseite zu räumen. Nun sollte sie sich mit einer anderen, ihr völlig unbekannten Ecke herumschlagen.

Doch dazu kam es nicht. Die Eckhausbewohnerin hatte sich keineswegs beruhigt, sondern sprang mit Bob in ihr Auto und nahm die Verfolgung auf. An der nächsten Ecke, an der zu Judiths Entsetzen ebenfalls eine Laterne stand, fuhren Bob und Frauchen dem Fahrschulwagen hinten gegen die Stoßstange und schoben ihn auf die Kreuzung. Der Prüfer änderte kurzfristig das Programm: In Belfast sei es trotz Friedensprozess manchmal wichtiger, den überhasteten Rückzug zu beherrschen als das Rückwärtsfahren um eine Ecke, meinte er. So kam Judith doch noch zu ihrem Führerschein – und die Eckhausbewohnerin zu einer anonym zugesandten Schachtel Pralinen.