: Ein Fest der Feinheiten
Theater für blinde und sehbehinderte Menschen ist in Deutschland nach wie vor eine Seltenheit. Das Theater Osnabrück hat nun mit „Pinocchio – Ein Stück Holz“ erstmals in Deutschland ein Kindertheaterstück mit Live-Audiodeskription auf die Bühne gebracht
VON ANNE REINERT
Rau fühlt es sich an, wenn der Vorhang sich hebt. Genauer gesagt ist es in diesem Fall eine Leinwand im Bühnenhintergrund. Langsam lassen die Techniker sie hochfahren, während die Teilnehmer der Bühnenbegehung ihre Hände auf die raue Oberfläche legen. Dass Häuser und ein Marktplatz darauf gemalt wurden, können die meisten hier nicht sehen. Denn die meisten Teilnehmer dieser Bühnenbegehung sind blind oder sehbehindert.
Das Theater Osnabrück hat sein diesjähriges Weihnachtsmärchen „Pinocchio – Ein Stück Holz“ für blinde und sehgeschädigte Besucher aufbereitet und insgesamt viermal in einer barrierefreien Variante gezeigt. Vor Vorstellung haben die Besucher die Gelegenheit, auf der Bühne das zu ertasten, was andere sehen können. Etwa die Werkstatt von Gepetto. Oder den Baumstamm, aus dem Pinocchio geschnitzt wird. Auch einige Schauspieler in ihren Kostümen sind da: Pinocchio-Darsteller Dominik Lindhorst ist da und lässt sich in seine künstliche Nase kneifen. Dem Schauspieler macht es nichts aus, dass die Zuschauer ihm so nah kommen. „Die greifen nicht zu, sondern tasten ganz vorsichtig“, sagt er.
Vor allem die Kinder nutzen die Gelegenheit, das zu tun, was Zuschauer in der Regel nicht dürfen. Die sechsjährige Anne etwa setzt sich den Brothut von Pinocchio auf. Etwas später versucht sie, der Füchsin Verena Mörtel ihren Schwanz abzureißen.
Doch nicht nur Kinder, auch Erwachsene machen bei der Bühnenführung mit. Manche haben dafür eine längere Wegstrecke in Kauf genommen. So gibt es ZuschauerInnen aus Hannover und aus Bonn.
Roswitha Röding ist aus Berlin angereist: Sie gehört zum Verein Hörfilm, der mit dem Theater Osnabrück die barrierefreie Vorstellung veranstaltet. Röding weiß, was diese Vorstellung für Sehbehinderte bedeutet. Sie selbst ist seit ihrer Geburt blind und war als Kind häufiger im Märchentheater. „Da habe ich die Feinheiten nie mitbekommen“, sagt sie. Das wird bei dieser Vorstellung anders sein: Es gibt eine Live-Audiodeskription. Dabei wird dem sehbehinderten Publikum über Kopfhörer beschrieben, was auf der Bühne zu sehen ist.
Roswitha Röding hat den Text für die Beschreibung mit Christoph Liebig und Anke Nikolai von Hörfilm e. V. geschrieben. Der Verein macht sonst vor allem akustische Untertitel für Fernseh- und Kinofilme. Aber auch Theaterstücke hat er mehrmals mit der Audiodeskription begleitet. Das erste Stück, bei dem das praktiziert wurde, war „mach die augen zu und fliege oder krieg böse 5“ von Regisseur Armin Petras beim Theaterfestival In Transit 2004 in Berlin. Das Theater Osnabrück ist das erste Theater in Deutschland, das ein Kinderstück mit einer Live-Audiodeskription zeigt.
Dass barrierefreie Vorstellungen generell selten sind, liegt also vor allem an der Finanzierung. Ein halbes Jahr lang haben die Hörfilm-Vorsitzende Anke Nikolai und Sonja Zirkler, Pressesprecherin am Theater Osnabrück, nach Sponsoren gesucht. 12.600 Euro haben sie zusammenbekommen. Denn weder der Verein noch das Theater haben die finanziellen Mittel, um die Audiodeskription zu bezahlen.
Anke Nikolai findet es verwunderlich, dass es keine öffentlichen Gelder für diese Vorstellungen gibt. „Rampen für Rollstuhlfahrer und behindertengerechte WC’s sind auch selbstverständlich“, sagt sie. Doch Unterstützung für Sinnesbehinderungen sei immer noch sehr selten. Dabei leben 155.000 blinde und 500.000 sehbehinderte Menschen in Deutschland.
Das wichtigste technische Mittel ist der Guideport, den die Sehbehinderten für die Vorstellung bekommen. Darüber hören sie während der Vorstellung die Stimme von Anke Nikolai, die in der Regieloge sitzt und in den Sprechpausen auf der Bühne ihren Beschreibungstext liest.
Außerdem sind auf dem Gerät Texte zu hören, die die Räumlichkeiten des Theaters beschreiben. Automatisch reagiert es, wenn sein Träger sich etwa der Treppe, der Garderobe oder dem Café im Theater nähert.
70 sehbehinderte Zuschauer haben sich für die erste barrierefreie Vorstellung von „Pinocchio – Ein Stück Holz“ Karten gekauft. Dazu kommen drei Schulvorstellungen, in denen zusammen 90 Schüler von Sehbehindertenschulen sitzen. Dass „Pinoccio“ in barrierefreier Inszenierung nicht noch öfter gezeigt wird, liegt an den Kosten und an dem logistischen Aufwand. Normalerweise, sagt Sonja Zirkler, würden barrierefreie Inszenierungen nur einmal gezeigt. Dass „Pinoccio“ vier Mal in barrierefreier Form läuft, sei bereits außergewöhnlich viel.
Beim Publikum kommt die Audiodeskription gut an. Obwohl die Inszenierung von Regisseurin Tanja Richter mit vielen visuellen Effekten gespickt ist, die Sehenden schwer beschreibbar erscheinen. Da ist etwa die in blaues Licht getauchte Meereslandschaft. Oder die Geschichte, wie Pinocchio von einem Wal verschlungen wird.
Und dann gibt es noch die vielen Geräusche im Stück. Eine erwachsene Zuschauerin sagt nach der Vorstellung: „Mit hat es gut gefallen, dass die Schritte von Pinocchio und den anderen lauter und leiser wurden, wenn sie weiter in den Wal hinein gegangen sind oder zu seinem Maul zurück gekommen sind.“ Von den sehenden Zuschauern dürfte das keiner mitbekommen haben.