: Aktionistische Blicke
Teil der gesellschaftlichen Praxis sein: Die Ausstellung „Schritte zur Flucht von der Arbeit zum Tun“ im Kölner Museum Ludwig widmet sich der Krise Argentiniens, den Protestbewegungen und der Suche nach einer Kunst, die beides darstellen könnte
VON CRISTINA NORD
In zwei Kabinetten hängen Anzüge, acht an der Zahl, mal ein-, mal zweireihig, mal schwarz, mal grau, mal beige. Wo andere Anzüge ein Etikett hätten, tragen diese Eigennamen: Sr. Raimondi, Mr Logologo oder Sr. 18 diciembre. Die Anzüge, entworfen und genäht von Andreas Siekmann, Alice Creischer und den Schneiderinnen der Brukman-Fabrik in Buenos Aires, sind bestickt, beschriftet, mit Stoffapplikationen und Bändern versehen, sodass sie beginnen, Fragmente einer Geschichte zu erzählen: zum Beispiel von der Besetzung der Brukman-Fabrik am 18. Dezember 2001, von den Räumungsversuchen, deren dritter erst die Arbeiterinnen vertrieb, von den Stundenlöhnen in der Textilindustrie („Li Wen-Factory: hourly wages: 18 cents – 12 hours a day“), aber auch von einer neoliberalen Politik, die sich inszeniert, als gäbe es zu ihr keine Alternative.
Die acht Anzüge gehören zu der Ausstellung „Schritte zur Flucht von der Arbeit zum Tun“, die nun im Kölner Museum Ludwig zu sehen ist. Die Ausstellung wiederum ist Teil von „Ex Argentina“, einem ehrgeizigen Projekt des Goethe-Instituts in Buenos Aires. Es befasst sich mit der argentinischen Krise, mit den Protestbewegungen und mit der Suche nach einer künstlerischen Methode, die beides darstellen könnte. „Ex Argentina“ beschränkt sich dabei nicht auf die Betrachtung argentinischer Zustände. Denn die Krise in dem südamerikanischen Land ist nicht nur hausgemacht; sie ist auch das Resultat einer weltweit wirkenden neoliberalen Wirtschaftspolitik. So wird in einigen Exponaten zur Sprache gebracht, dass der G-8-Gipfel 1999 am selben Ort stattfand wie heute die Ausstellung; ebenso, dass der Müllskandal von Köln und der Bankenskandal von Berlin sich von der Public-Private-Misswirtschaft in Argentinien kaum unterscheiden. Es ging den Kuratoren, Andreas Siekmann und Alice Creischer, nicht um eine einfach zu konsumierende Schau junger argentinischer Kunst, sondern um etwas Sperriges: eine Mischung aus Dokumentation, politischem Aktivismus, Theorie und künstlerischer Form, an der neben den argentinischen auch europäische Künstler und Aktivisten teilhaben.
Der Ausstellung ging im November ein Kongress voraus; er trug den bezeichnenden Namen „Pläne zum Verlassen der Übersicht“. Dieses Paradox, dass es Pläne gibt, um die Übersicht aufzugeben, ist auch in Köln am Werk. Die Übersicht wird hier zwar in zahlreichen kartographischen Experimenten angestrebt – unter anderem in dem groß angelegten Welterfassungsversuch von Gerd Arntz und Otto Neurath, dem Atlas „Gesellschaft und Wirtschaft. Bildstatistisches Elementarwerk“ aus dem Jahre 1930, den Lüneburger Studenten um neue Bildtafeln ergänzt haben. Zugleich jedoch entzieht sie sich, kaum hat man die Ausstellungsräume betreten.
Denn das Untergeschoss des Museums mit seinen Kabinetten, langen Gängen und dem großen Saal wird so bespielt, dass ein Rundgang wenig Sinn hat. Die Besucher erhalten eine Broschüre, in der vier thematisch gegliederte Routen verzeichnet sind. Diese Routen – „Negation“, „Kartographie“, „Militante Untersuchung“ und „Politische Erzählung“ – führen kreuz und quer durch das Museum. Es ist schon deshalb sinnvoll, den Routen zu folgen, weil die Exponate im Raum nicht beschriftet sind und der Erläuterungen in der Broschüre bedürfen. Vermutlich ist es kein Zufall, wenn dieses Verfahren an einen wichtigen Roman der argentinischen Avantgarde erinnert: an Julio Cortázars „Rayuela“ (1963). Auch darin wird die Linearität aufgehoben; man springt, einer Leseanweisung des Autors folgend, von Kapitel zu Kapitel. In „Schritte zur Flucht von der Arbeit zum Tun“ geschieht etwas Ähnliches. Man geht zwar im Zickzack, hält sich aber trotzdem an einen vorgegebenen Parcours.
Wenn dies den vertrauten Ablauf eines Museumsbesuchs hinter sich lässt, so liegt in dem Umstand, dass die meisten Beiträge die ästhetische Verdichtung verweigern, eine umso größere Abweichung. Die Grupo de Arte Callejero (GAC, Gruppe für Straßenkunst) zum Beispiel, die im letzten Sommer auf der Biennale in Venedig vertreten war, hat ein Videoband, Flugblätter und zwei Stellwände mitgebracht, deren Look an die Website von indymedia erinnert. Auf den Stellwänden sind verschiedene Grafiken abgebildet, ein Stadtplan von Buenos Aires zum Beispiel, auf dem die Wohnorte straffrei gebliebener Angehöriger des Militärregimes rot markiert sind: „Aquí viven genocidas“ – „Hier leben Völkermörder“. Des Weiteren ist eine Weltkarte zu sehen, auf der gelbe Kreise für „financial power“ und rote Kreise für „resistance“ stehen, hinzu kommt eine Aufsicht auf die Mäander des Riachuelo-Flusses, einen der am meisten verschmutzten Wasserläufe Lateinamerikas.
Auf der gegenüberliegenden Tafel sind Informationen zu den Aktivitäten von Siemens, Sony Ericsson, Mercedes-Benz, Benetton und dem Zuckerrohrunternehmen Ledesma eingetragen. Man erfährt, dass Adolf Eichmann als Elektriker bei Mercedes arbeitete, dass Benetton den Mapuche-Indianern in Patagonien miserable Löhne zahlt und dass ein Minister der Militärdiktatur, Alfredo Martínez de Hoz, „Enkel eines der Ideologen der ,Eroberung der Wüste‘ war, des Ausrottungsfeldzugs gegen die indigenen Völker im 19. Jahrhundert“. Doch die Daten bleiben disparat. Zusammenhänge werden suggeriert, nicht belegt; der politische Feind wird identifiziert, ganz so, als hätte Macht immer ein konkretes Gesicht und einen konkreten Namen.
So liefert GAC Fragmente für eine Verschwörungstheorie, statt den genauen Blick zu üben. Das ist umso bedauerlicher, als dadurch ein fahles Licht auf den erinnerungspolitischen Aktivismus der Gruppe fällt. Wenn die Datenkombinationen auf den Stellwänden sich darauf beschränken, plakative Zusammenhänge zu stiften, wie ist es dann um die Straßenaktionen von GAC bestellt? Die Gruppe nimmt an Escraches, den spektakulären Outing-Aktionen von Angehörigen des Militärregimes teil, außerdem hat sie ein System von Straßenschildern entwickelt, um damit die Orte auszuweisen, an denen gefoltert und gemordet wurde. Es bleibt zu hoffen, dass sie dabei nicht derselben linken Selbstgewissheit verfällt wie im Museum Ludwig.
Möglicherweise liegt hierin ein Grundproblem jener „militanten Untersuchung“, die die Kuratoren zum Leitmotiv für eine der vier Routen machen. Entlehnt haben sie den Begriff von der Gruppe Colectivo Situaciones; erklärt wird er folgendermaßen: Er „steht für ein theoretisches Engagement, das das bürgerliche Gebot von wissenschaftlicher Objektivität ablehnt und stattdessen die Involvierung des Autors in eine politische Praxis fordert“. Analog dazu soll das Kunstwerk sich nicht in sich selbst erschöpfen, sondern über das Museum hinaus wirken; statt sich auf seine Autonomie zu berufen, soll es Teil einer gesellschaftlichen Praxis sein.
Einmal abgesehen davon, dass sich dies nahtlos in den „Siebzigerismus“ einfügt, vor dem das Colectivo Situaciones in seinen „Dummies zu Bildpolitik“ doch warnt, stellt sich folgende Frage: Was geschieht, wenn besagte politische Praxis das Ergebnis der künstlerisch-theoretischen Untersuchung vorwegnimmt? Wenn sie den Blick so trübt, dass das Resultat schon feststeht, bevor die Untersuchung überhaupt beginnt? Hinzu kommt, dass ein Kunstwerk, das sich selbst nicht genügt und stattdessen auf etwas hinarbeitet, Mehrwert produziert. Und an dieser Stelle schließt sich eine Lücke, die besser offen bliebe: die zwischen der kritischen Bildproduktion und der Verwertungslogik des Kapitalismus. In diesem Sinne fällt „Schritte zur Flucht von der Arbeit zum Tun“ hinter die politisierte Kunst der letzten Documenta zurück. Denn die meisten Beiträge der Kasseler Schau leisteten etwas, was in Köln fehlt: das close reading einer unübersichtlich gewordenen Welt.
Interessant wird „Schritte zur Flucht von der Arbeit zum Tun“ denn auch dort, wo die Beiträge sich auf die Kleinteiligkeit des Materials verlassen. Eduardo Molinaris Installation „El camino real“ verzettelt sich im wahrsten Sinne des Wortes, indem sie Zeitungsausrisse, Postkarten und Landkarten zusammenträgt, mit selbst gemachten Stempeln versieht und dabei die Objektivität eines Archivs halb suggeriert, halb als Schimäre preisgibt. Matthijs de Bruijne lässt in „www.liquidacion.org“ cartoneros, Müllsammler, zu Wort kommen. Sie beschreiben ihre Fundstücke und erzählen von ihren Träumen; beides, Fundstücke wie die auf CD aufgenommenen Träume, lässt sich über die Website erwerben. Die Preise setzen bei 30 US-Dollar ein; der Erlös kommt den cartoneros zugute. Sonia Abian und Carlos Piegari schließlich haben drei „Stadtviertelapparate“ gebaut, kleine Möbel, in deren Innerem sich CD-Spieler verbergen. Die Wort- und Musikaufnahmen aus der Stadt Posadas in der nordargentinischen Provinz Misiones organisieren sich rund um den Satz „Die Erde ohne Übel sei an diesem Ort gewesen“. In den vielen kleinen Schubladen finden sich Hefte, in denen man immer wieder auf eine Frage stößt: „Was wirst du mit all dieser Information machen?“
Bis 16. Mai, Museum Ludwig, Köln