Die Dichte des Sehens

Mit Chris Dercon erhält das Haus der Kunst in München einen Direktor, der auf Auseinandersetzung mit der NS-Architektur des Gebäudes setzt – und auf ein junges Publikum mit Sinn für Sophistication

„Der Speed ist längst draußen“, analysiert Dercon den Markt für Museumsevents

von IRA MAZZONI

„Die Welt ist zu gefährlich für alles, was nicht Utopie ist.“ Dieser Satz von Buckminster Fuller könnte in Zukunft gut den Architrav am Haus der Kunst zieren. Denn was Chris Dercon mit der Kunsthalle vorhat, ist ein utopisches Projekt an historischem Ort. Ein solch paradoxer Ansatz entspricht nicht nur dem derzeitigen Lebensgefühl, sondern hat auch als Kunstform Potenzial.

Der scheidende Kultusminister Hans Zehetmair hatte dem „schönsten Kunsttempel Bayerns“ die „besten Denker“ gewünscht. Nach der kalten Entmachtung Christoph Vitalis und der Brüskierung seines Stellvertreters Hubertus Gaßner eine weitere Frechheit, die nur Dercon gegenüber charmant war.

Der bisherige Chef des Rotterdamer Museums Boijmans Van Beuningen ist als Querdenker bekannt. Seine Inspirationsquelle sind die anachronistischen Sammler und Sinnstifter Walter Benjamin, Aby Warburg und Carl Einstein. Das Gestern im Heute wiederzuentdecken und, umgekehrt, das Heute im Gestern wurde zum Montageprinzip mancher Rotterdamer Ausstellung und soll zukünftig auch den Münchnern neue Horizonte eröffnen: Rem Koolhaas’ XL Projekte wurden mit Pieter Breughels „Babylon“-Gemälde konfrontiert, und in der Hieronymus-Bosch-Retrospektive gab es viel Gegenwartskunst.

Weil die zitatenreich aufbereitete Mischung des Ungleichzeitigen nicht jedem eingänglich war, verglich das niederländische Publikum den Ausstellungsmacher mit einem „umgefallenen Bücherregal“. Beim Umbau des Museums jedenfalls sorgte Dercon dafür, dass die Bibliothek programmatisch an vorderster Front steht. Gleichzeitig löste er alle Fachabteilungen auf, um das wilde Denken zu fördern. Derweil erkundigt sich in München schon mancher besorgt, ob Dercons Ausstellungsprojekte nicht zu intellektuell seien. Andererseits sind die Erwartungen groß. Dercon könnte eine international beachtete Plattform für zeitgenössische Kunst etablieren und das Haus der Kunst wieder zum Premierenort machen. Der neue Mann ist noch keine Woche in der Stadt, und schon diskutiert man an der Akademie der Bildenden Künste das Zukunftspotenzial.

Doch zunächst wird sich der Flame als Denkmalpfleger einen Namen machen. Denn das Haus der Kunst selbst soll seinem Programm unverwechselbares Profil geben. So steht die sukzessive kritische Rekonstruktion der Architektur im Zentrum von Dercons Identitätsstiftung. Der von Hitler und Paul Ludwig Troost gemeinsam geplante Kunsttempel soll von seinen Trockenbauelementen befreit werden, die die Nord-Süd-Achse mit „Ehrenhalle“ und Terrassensaal genauso verstellen wie die Passage vom Ost- zum Westflügel. Schon schwärmt Dercon von der gigantischen Raumflucht von der Prinzregentenstraße bis zum Englischen Garten und von der radikal gerasterten Modernität des Baus: Troost ein Vorläufer von Mies von der Rohe!

Der Rückbau wird – auch mangels entsprechender Baugelder – in das künstlerische Programm eingebaut. Es wird raumsprengende Installationen und Wandmalereien geben. Der Biennalen-Liebling Aeronout Mik wird für die Ehrenhalle eine eigene Videoinstallation entwickeln. Gleichzeitig bekommt der holländische Jungstar seine erste Einzelschau in Deutschland. Die Halle wird Erfahrungsraum und Laboratorium zugleich.

Kaum ein Projekt, das nicht Bezug nimmt auf diesen geschichtsträchtigen Ort. Wobei Dercon die ganze Geschichte des Hauses reflektiert haben will, beginnend mit den Glaspalastausstellungen des 19. Jahrhunderts und endend mit einmaligen Nachkriegspräsentationen. Fast vergessen, dass Picassos „Guernica“ 1955 im Haus der Kunst gezeigt wurde und sonst nirgends in Deutschland. Entsprechend dem neuen Geschichtsbewusstsein will Dercon die jahrelang geschmähten Künstlervereinigungen nicht aus dem Haus werfen. Autonome Organisationen mit autonomer Jury, das sei doch spannend. Ließe sich doch über die Freiheit der Kunst und die Professionalisierung des Künstlers trefflich philosophieren. Und so bleibt die traditionsreiche „Große Kunstausstellung“ auf dem Programmzettel.

Schon die Ausstellung „Grotesk – 130 Jahre Kunst der Frechheit“, die im Juni von der Frankfurter Schirn übernommen wird, steht im Kontrast zu der „Ehrenhalle“, die von Troost als leere Machtkulisse gebaut wurde. Dada und Punk können also nochmals ihre subversive Kraft gegen den Pathos des Monumentalen entfalten. Ab sofort wird der historische Ort zur Reibungsfläche. Mit jedem Projekt werden Schuld und Unschuld der Architektur mitdiskutiert.

Der Rückbau – schon von Gaßner projektiert – gilt nicht nur der Spurensicherung. Der Rückbau ist auch ein Gebot der Ökonomie: Das Haus der Kunst hat nicht zu wenig, sondern zu viel Ausstellungsfläche. Deswegen soll auch der Westflügel, der zurzeit noch vom Staatsschauspiel genutzt wird, in Zukunft gewinnträchtig vermietet werden.

„Weniger ist mehr!“ Mit dieser Devise verkleinert Dercon seine Spielwiese und will sich auch beim Spielzeug beschränken. Die Ära Vitali ist vorbei: Die halsbrecherische Tour de force mit jeweils drei parallelen Ausstellungen wird nicht fortgesetzt. „Der Speed ist doch längst draußen“, analysiert Dercon den Zeitgeist und propagiert eine neue Kultur der „präzisen“ Langsamkeit und der Komplexität. Immer noch entrüstet er sich darüber, dass der Londoner Independent das Haus der Kunst als „Ort durchreisender Ausstellungen“ bezeichnete: „Hier gibt es ein gravierendes Imageproblem. Es darf keine Verwechslung mit einer Bushaltestelle oder einem Bahnhof geben!“ Und weil es in München zu viel desgleichen gibt, braucht der Kunsttempel ein neues Profil. „50 Rembrandts – das ist keine Ausstellung! Die Leute bewundern sich doch nur kaputt!“

Mit diesem Zitat nach Thomas Bernhards alten Meistern setzt sich Dercon von der so genannten Münchner Konkurrenz ab. Nicht die Dichte der gehängten Bilder, sondern die „Dichte des Sehens“ will Dercon fördern und damit zur Nachdenklichkeit animieren. Bereits mit dem in Venedig gestarteten Langzeit- und Wanderprojekt „Utopia Station“ wird die Kunsthalle zum Seminarraum. Wenn Dercon erfolgreich sein will, dann braucht er ein neues Publikum: jung, international und sophisticated.

Die Trilogie der „starken Frauen“ wird zur eigentlichen Nagelprobe des neuen Teams. Thomas Weski, bis vor kurzem noch Hauptkurator für die Kunst des 20. Jahrhunderts mit Schwerpunkt Fotografie und Video am Museum Ludwig in Köln, hat seine Beziehungen spielen lassen und die Sammlerin Ydessa Hendeles nach München eingeladen. Ihre ungewöhnliche Sammlung, die High und Low in metaphorische Zusammenhänge bringt, wurde noch nie außerhalb Torontos gezeigt und hat doch Geschichte gemacht. Hendeles ist Idol junger Kuratoren in aller Welt. Wenn die jüdische Emigrantin ihre facettenreiche Sammlung ausgerechnet im Haus der Kunst präsentiert, dann bekommt sie erstmals „eine Stimme in dem Land, in dem ich geboren wurde“. Die Geschichte des Ortes war auch für die Irin Abigail O’Brien das Argument, ihren dann vollendeten Zyklus der „Sieben Sakramente“ hier vorzustellen und nicht in der Tate Gallery. Die guten Kontakte der Kuratorin Stephanie Rosenthal, die bereits O’Briens „Ophelia“-Installation in der Ausstellung „Stories“ im Haus der Kunst gezeigt hatte, taten ein Übriges.

Das Trio der starken Frauen wird komplettiert von der Punk-Poetin Patti Smith, die nicht nur dichtet, komponiert und singt, sondern auf Anregung von Mapplethorpe schon seit den 70er-Jahren zeichnet. Ihr jüngster Zyklus „Strange Messenger“, ausgelöst vom 11. September, beschäftigt sich mit Breughels Turm von Babel. Gelegenheit, wieder einmal die altbekannten Kupferstiche zu zeigen. Auch O’Briens Werk wird direkt mit seinen Vorlagen, den allegorischen Genrebildern niederländischer Maler des 17. Jahrhunderts konfrontiert. Braucht die junge Kunst die alten Meister, um beim Publikum anzukommen? Gehört kunsthistorische Patina gar zur Überlebensstrategie des Ausstellungshauses? Themenausstellungen aktueller Kunst floppten regelmäßig. Die Spitzweg-Retrospektive hingegen beschert dem neuen Team einen komfortablen Start.

Für alte Kunst und Münchner Traditionen ist ab sofort Léon Krempel verantwortlich, der am Städel in Frankfurt schon Jeff Wall und den niederländischen Interieurmaler Pieter Janssens zusammenspannte. Auch eine Methode, einem gänzlich unbekannten Meister des 17. Jahrhunderts wieder Aufmerksamkeit zu verschaffen. Krempel wird nun den Münchnern die Kartons für die Glyptotheksfresken von Peter Cornelius bescheren und somit nicht nur Institutionsgeschichte abhandeln, sondern auch versuchen, die Modernität der strengen Linie zu vermitteln – während sein Kollege Weski die Typologien von Bernd und Hilla Becher von Düsseldorf ins Haus der Kunst holt. Bevor es dann weitergeht mit einem Querschnitt durch private Schatzhäuser Deutschlands, gönnt sich das Team Mitte 2004 eine erste Atempause. Die Bilanz wird auch die Strategie beeinflussen. Der Staat hat zwar den Etat um 1,5 Millionen Euro erhöht, aber die Schörghuber-Unternehmensgruppe hat ihre weitere Beteiligung am Haus der Kunst vorerst nur für zwei Jahre zugesagt.

Die junge Mannschaft um Dercon steht also unter Erfolgsdruck. Immerhin, so Dercon, habe München das Selbstbewusstsein, auf das aktuelle Kunstgeschehen noch „Einfluss nehmen zu können“, Berlin nicht mehr. Allerdings besteht auch die Gefahr des Scheiterns. Denn die Welt und das Geld können auch für Utopien gefährlich werden. Schon in zwei Jahren will die Schörghuber-Unternehmensgruppe überprüfen, ob sie den neuen Kurs weiter mitfinanziert.