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„Unsere Musik wollten sie immer haben ...“

Der Vorsitzende des Bremer Sinti-Vereins und Holocaust-Überlebende Ewald Hanstein ist 80 geworden. Bis heute berät er Sinti und Roma über den Umgang mit deutschen Behörden

von Ralf Lorenzen

„Dzien dobry.“ – „Gut siehst du aus!“ „Merci, toi aussi!“ Mit jedem Gast wird das Sprachengewirr im Hotel Handelshof unübersichtlicher. Von den Männern, die sich mit Komplimenten über ihr Aussehen überschütten, ist fast keiner unter achtzig.

Wie jedes Jahr hat der Thüringer Landtag zum Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar eine Gruppe überlebender Häftlinge der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora mit ihren Ehefrauen in das Harzstädtchen Nordhausen eingeladen. Ewald Hanstein schäkert mit der Protokollchefin des Landtages, Ingrid Rost, die diesen Kreis seit Jahren liebevoll betreut. Rosita Hanstein hat nichts dagegen. Sie freut sich, dass ihr Mann seinen Charme nicht verloren hat. Nach alledem.

Dabei hatte bei der Geburt alles noch so gut ausgesehen. „Den will ich haben“, rief die Großmutter, kaum hatte die 17-jährige Maria Hanstein den kleinen Ewald am 8. April 1924 im Krankenhaus der Kreisstadt Oels als ersten Sohn zur Welt gebracht – auf einer der Reisen, die die Sinti-Familie noch bis zur Machtergreifung der Nazis 1933 unternahm. Von Breslau aus zog sie im Sommer immer ein paar Monate mit Pferd und Wagen durch Schlesien.

Es kam zunächst wie die Großmutter wollte: Bei ihr wuchs Ewald Hanstein im Kreise von fünf Cousinen, zwei Müttern und einer großen Schwester auf. „Judenkind“ nannten sie ihn, wegen seiner lockigen schwarzen Haare. Und sie überschütteten ihn mit einem Übermaß an weiblicher Zuneigung – dem er wohl seine Ausstrahlung verdankt, mit der er bis heute bei gelegentlichen Stepp- oder Gesangseinlagen selbst Johannes Heesters wie einen Holzklotz aussehen lässt.

Wieder öffnet sich die Fahrstuhltür der Hotellobby und Ewald Hanstein breitet seine Arme noch etwas weiter aus. „Hallo Willi, Unkraut vergeht nicht, wa?“ – „Det musst du jrade sajen, Ewald!“ Der Berliner Jude Willi Frohwein war wie der Sinto Hanstein in den KZ Auschwitz und Mittelbau-Dora interniert. Irgendwann beim Austausch von Erinnerungen haben sie festgestellt, dass sie auf dem selben Transport gewesen sein müssen, der damals vom Gefängnis am Berliner Alexanderplatz nach Auschwitz abging.

Berlin. In der dortigen Sinti-Gemeinde hatte sich die Familie Hanstein 1936 mehr Schutz erhofft als in Breslau, wo Vater Peter als „Zigeuner“ und ehemaliger Trommler im Spielmannszug der KPD bekannt und deshalb besonders gefährdet war. Doch die Hoffnung zerplatzte, die Hansteins wurden in ein Lager bei den ewig stinkenden Rieselfeldern von Marzahn gezwungen, von den Nazis „Rastplatz“ genannt. Hier lebten bis zu tausend Sinti und Roma zusammengepfercht – um Berlin für die Olympischen Spiele „zigeunerfrei“ zu machen und die spätere Deportation vorzubereiten.

Ewald Hanstein konnte sich der Räumung des Lagers und dem Transport nach Auschwitz-Birkenau Anfang März 1943 noch entziehen. Der 20-Jährige war fast drei Monate lang in Berlin untergetaucht. Sein Arbeitergeber deckte ihn. „Ich habe seiner Tochter täglich eine halbe Stunde Stepptanz-Unterricht gegeben“, erzählt Hanstein, „unsere Musik wollten sie immer, die so genannte Zigeunermusik.“ Während Willi Frohwein sich an das genaue Datum der Deportation erinnern kann: Es war der 22. Mai 1943.

Die beiden hocken noch zusammen, als die anderen schon auf ihre Zimmer gegangen sind, um sich vor dem Abendessen noch etwas auszuruhen. Sie erzählen von ihren letzten Begegnungen mit Schülern in Bremen und Berlin – Schnauze und Erinnerungsvermögen machen die beiden Alten zu begehrten Zeitzeugen.

Viele Überlebende können nicht über die KZ-Zeit reden. Und konnten es nie. Willi Frohwein und Ewald Hanstein müssen reden. Um zu verarbeiten, um ihre Toten zu ehren, um ihr Überleben vor sich selbst zu rechtfertigen. „Ich wollte überleben, um mich an denen zu rächen, die uns das angetan haben“, sagt Hanstein. Seinem unbändigen Überlebenswillen hatte er im Lager alles untergeordnet. Während der Hass wuchs, versuchte er nicht aufzufallen. Mit Fleckfieber, auf 40 Kilo abgemagert, ließ er sich von Mithäftlingen zur Arbeit schleppen. Er wusste: wer nicht mehr arbeiten kann, kommt ins Gas. Ohnmächtig sah er mit an, wie seine Geschwister, Cousinen und seine Mutter im August 1944, als das „Zigeunerlager“ in Auschwitz-Birkenau liquidiert wurde, auf einen Lastwagen steigen mussten. Jeder wusste, wohin sie kamen. Wie die anderen halbwegs Arbeitsfähigen kam Hanstein davon, weil die Nazis ihn für ihre Kriegsproduktion in Mittelbau-Dora brauchten.

Beim Abendessen tragen die Überlebenden ihre Erinnerungen an den gewaltigen Stollen im Kohnstein zusammen, wo die Nazis unter der Federführung Wernher von Brauns nach der Bombardierung Peenemündes die „Wunderwaffe“ V2 bauen ließen. „Vernichtung durch Arbeit“ hieß das Programm, das Zigtausende das Leben kostete. „In keinem KZ war die Arbeit so schlimm wie in Dora“, sind sich alle einig. Aber als ein polnischer Überlebender die Verhältnisse in der Nazizeit mit dem sozialistischen Polen und der DDR vergleicht, ist es mit der Einigkeit vorbei. Ewald Hanstein lässt das VVN-Abzeichen an seinem Anzug-Revers blitzen. Dabei hat er die DDR selbst in schlechter Erinnerung.

Der Todesmarsch von Mittelbau-Dora endete für ihn 1945 in einer Scheune in Eggersdorf bei Schönebeck an der Elbe, wo die Amerikaner die letzten deutschen Truppen in die Flucht schlugen. Ohne Familie und Heim blieb er gleich dort, Stunde Null an Ort und Stelle.

„Unbelastete Männer waren gefragt.“ Hanstein lernte seine erste Frau kennen, wurde Hilfspolizist, später Schlosser. Nach Gründung der DDR kamen die Funktionäre von der SED zu ihm: „Du bist doch in der VVN, wir wollen unseren demokratischen Staat aufbauen, willst du nicht mitmachen?“ Der Umworbene wurde Bahnpolizist in Magdeburg und begleitete als Musiker sogar das Erich-Weinert-Ensemble, den Chor der Nationalen Volksarmee. Lange ging das nicht gut.

„Erst hieß es ‚Kollegen‘, dann ‚Kameraden‘ und schließlich ‚stramm stehen‘. Da habe ich aufgemuckt.“ Die Mucken endeten 1950 beim großen FDJ-Treffen in Berlin, wo ‚Kameraden‘ angeblich gesehen haben wollten, dass er in Uniform die Sektorengrenze, die er doch bewachen sollte, selbst übertreten habe. Das gab zehn Monate U-Haft in Magdburg wegen ‚Schädigung des Ansehens der Volkspolizei‘. Uniformen kann Ewald Hanstein bis heute genauso wenig ausstehen wie das Wort ‚Kamerad‘ – aber er legt sich mit jedem an, der die DDR mit dem nationalsozialistischen Deutschland und den Verbrechen der Nazis vergleicht.

Am nächsten Morgen gehören die Überlebenden zu den ersten, die den Kohnstein zur offiziellen Gedenkfeier betreten. Sie betrachten den monumentalen Stollen, den sie vor 60 Jahren mit ihren eigenen Händen freigebohrt und -geschaufelt haben, als müssten sie immer noch ständig bereit sein, sich in die Ecke zu werfen und vor der nächsten Sprengung zu schützen. Nach und nach treffen die Ehrengäste ein. Ministerpräsident Althaus kommt direkt von der zentralen Gedenkfeier im Bundestag und übermittelt Ewald Hanstein im persönlichen Gespräch die Grüße von Bremens Bürgermeister Henning Scherf. Der Gegrüßte strahlt, Anerkennung von offizieller Seite ist ihm wichtig. Darum musste er lange kämpfen.

Nach der Flucht in den Westen landete Hanstein mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen zunächst im Auswandererlager Bremen-Nord. Im Bremen Wilhelm Kaisens waren die Sinti in einem Ghetto auf dem Riespott untergebracht, einem ehemaligen Nebenlager des KZ Neuengamme, in dem Hansteins Vater ermordet worden war. Die Verhältnisse spotteten jeder Beschreibung, erinnert sich Hanstein. In den Ausschüssen, die über die Entschädigung entschieden, saßen vielfach alte Nazis. Jetzt zahlte sich nicht nur der Deutschunterricht seiner Mutter Maria aus, sondern auch die Kaderschulung in der DDR: Ewald Hanstein wurde zum Interessenvertreter seiner Minderheit.

Nach der Arbeit als Schweißer bei Borgward und vor den Auftritten mit seiner „Rhythmusgruppe Hanstein“ ging der Sinto auf Ämter, beschwerte sich für andere und half vielen, die nicht lesen oder schreiben konnten. „Ich war schon immer etwas weiter“, sagt er heute. „Die meisten von uns haben immer noch Angst, den Mund aufzumachen“. Dafür muss er sich von seinen Leuten bis heute anhören, er sei ja selbst schon wie ein Gadje, ein Nicht- Sinto.

Als Hanstein Ende der siebziger Jahre aus dem Harz nach Bremen zurückkehrte, wo er zwischenzeitlich ein Bekleidungsgeschäft besessen hatte, bekam er Wind davon, dass eine paar gut meinende Gadje den „Verein zur Durchsetzung der Rechte der Zigeuner“ gründen wollten – ohne einen Sinto. Das kam für Ewald Hanstein nicht in Frage. Er kandidierte – und wurde in den Vorstand des Vereins gewählt, der seither Bremer Sinti-Verein heißt.

Höhepunkt der beiden Tage von Nordhausen ist ein Empfang der Landtagspräsidentin Christine Lieberknecht im Ratskeller. Während der Tischreden von Politikern, Historikern und Künstlern wird Ewald Hanstein, der seit Maueröffnung Mitglied im Häftlingsbeirat der Gedenkstätte Mittelbau-Dora ist, immer unruhiger. Von den Sinti und Roma war schon auf der Gedenkveranstaltung kaum die Rede gewesen. Dass der Leiter der Gedenkstätte bei der Vorstellung der Gäste seine Frau Rosita vergisst und auch nicht genau weiß, welche Funktion Hanstein heute im Bremer Sinti-Verein inne hat, kann er gerade noch schlucken. Aber als ein Regisseur, der schon mehrere Filme über KZ-Opfer gemacht hat einräumt, das erste Mal hier zu sein, platzt ihm der Kragen: „Das finde ich aber traurig, wenn sie doch schon so lange Filme über die NS-Zeit machen.“ Die Stimmung ist hinüber, am Tisch wird der Regisseur verteidigt.

Am nächsten Morgen vor der Abreise beschließt Ewald Hanstein: „Hier komme ich nicht wieder her. Hier sind wir auch nur das fünfte Rad am Wagen.“ Hanstein hat ein empfindliches Gespür für Geringschätzung. Zu tief sitzt bei ihm die Erfahrung von Diskriminierung von Sinti in Deutschland. Bis in die 80er Jahre hinein war offiziell nicht anerkannt, dass Sinti und Roma wie Juden aus rassischen Gründen verfolgt und vernichtet wurden. Hartnäckig hielt sich der Verdacht, sie hätten sich wohl irgendetwas zu Schulden kommen lassen.

Erst Monate später kann Ewald Hanstein wieder einmal sagen: „Schwamm drüber!“ Gerade hat ihn Jens-Christian Wagner, der Leiter der Gedenkstätte Mittelbau-Dora angerufen, um sich zu entschuldigen und ihn noch einmal zum Gedenktag zur Befreiung des KZ am 12. April einzuladen. Da sitzt Ewald Hanstein in seinem Woltmershausener Büro, in dem er gemeinsam mit Sohn Romano berät: Sinti, die immer noch keine Zwangsarbeiterentschädigung erhalten haben oder Roma, denen die Abschiebung in den Kosovo droht – wo Jagd auf sie gemacht werden wird.

Nach Dora ist Ewald Hanstein über Ostern nicht gefahren – aber nicht, weil er nachtragend ist. Er war bei seiner Tochter Ramona in Darmstadt, um seinen 80sten Geburtstag zu feiern. Eigentlich hätte er mit Ehefrau Rosita gerne eine private Reise in den Harz gemacht, aber bei der kleinen Rente des Paares sind große Sprünge nicht drin. Worüber man ihn nie wird klagen hören – höchstens kräftig schimpfen.

Im August/September erscheint im Bremer Donat Verlag die mit Ralf Lorenzen verfasste Autobiografie von Ewald Hanstein.

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