: Das „Moral Bombing“ scheiterte
Matthias Kuse und Ralf Täuber haben 250 Zeitzeugen zum Leben während des Bombenkrieges in Bremen befragt. Es sind die Erinnerungen einer Generation, die offenbar zu wenig zu Wort kam
Matthias Kuse (li.) und Ralf Täuber (re.) sind Autoren des Bandes „Bremen im Bombenkrieg“, erschienen im November 2008 im Hauschild-Verlag.
Interview: Henning Bleyl
Wenn man Ihr Buch „Bremen im Bombenkrieg“ gelesen hat, denkt man beim Anblick der zahlreichen Bremer Bunker nicht mehr an Band-Proberäume. Sie haben sich sieben Jahre lang mit den entsprechenden Zeitzeugen-Berichten beschäftigt. Wie hat sich Ihr Lebensgefühl in dieser Stadt verändert? Ralf Täuber: Ich bin in Bremen aufgewachsen und hätte gedacht, die Stadt zu kennen. Aber jetzt schaue ich viel aufmerksamer: Man sieht die Ausstiegsklappen aus den Kellern, nimmt die Bebauungslücken war – und weiß von den vielen Straßenzügen und Plätzen, die es gar nicht mehr gibt. Man bekommt aber auch Respekt vor dem Wiederaufbau.
Matthias Kuse: Ich finde es aber auch bedrückend. Mir ist das Thema nahe gekommen, als meine Mutter Ende der 90er Jahre, also nach mehr als 50 Jahren, einmal vollkommen unvermittelt anfing, von ihren Erlebnissen zu erzählen.
Es ist erstaunlich, dass noch niemand vor Ihnen diese Bremer Zeitzeugen-Berichte gesammelt hat.
Kuse: In der Tat. Der Literaturwissenschaftler W. G. Sebald hatte Ende der 1990er konstatiert, welch geringen Widerhall diese Erfahrung in der bundesdeutschen Literatur gefunden hat.
Täuber: Für Bremen gibt es natürlich allgemein-historische Darstellungen und Bildbände wie „Bremen kaputt“. Uns ging es aber darum, die alltagshistorischen Räume der Mikrohistorie zu erfassen.
Sie haben fast 250 Zeitzeugen der Jahrgänge 1921 bis 1937 interviewt. Sehr viel mehr Menschen hätten Sie wohl kaum so ausführlich befragen können, zumal Sie dafür auch reisen mussten. Andererseits hat sich auf Ihren 2001 gestarteten Zeitungsaufruf nur ein winziger Bruchteil der damals über 60-Jährigen gemeldet.
Kuse: Ja. Es gibt sicher viele, die es sich nicht zumuten wollen oder können, diese Bilder wieder heraufzubeschwören. Das haben wir vor allem bei Menschen gemerkt, die sich nicht selbst gemeldet haben, sondern die uns vermittelt wurden: Von denen war fast nichts zu erfahren.
Letztlich haben Sie „nur“ 31 ZeitzeugInnen-Berichte veröffentlicht. Nach welchen Kriterien habe Sie die ausgewählt?
Täuber: Wir wollten kein Quellenwerk herausbringen, sondern ein Lesebuch. Das Ziel war, möglichst Vielschichtiges über den Alltag erfahrbar zu machen. Uns interessierte, wie es möglich war, in diesen unglaublichen Trümmern so etwas wie Alltag zu organisieren.
Zwei Drittel dieser Zeitzeugnisse stammen von Frauen. Mit den Einberufungen kann dieses Ungleichgewicht nichts zu tun haben – es waren ja größtenteils Kinder.
Täuber: Frauen sind eher in der Lage zu berichten, weil sie härter im Nehmen sind. Die männlichen Gesprächs-Partner wurden in der Regel wesentlich leichter von ihren Gefühlen überwältigt.
Vermutlich waren diese Interviews ohnehin oft Gratwanderungen.
Täuber: Wir sind als Historiker gekommen, aber es hätte auch ein Psychologe dabei sein können. Während der im Durchschnitt mehrstündigen Gespräche standen wir immer wieder vor der Frage, können wir das jetzt weiterführen oder nicht. Oft waren es dann die Zeitzeugen selbst, die gesagt haben: Wie wollen weiter erzählen. Manchmal hatten wir das Gefühl, dass die Leute erst während des Gesprächs realisiert haben, auf was sie sich eingelassen hatten.
Kuse: Als mir eine Frau sehr genau vom Tod ihrer Mutter erzählte, standen mir die Haare zu Berge. Sie hat es aber bis zu Ende erzählt.
Gab es weitere Unterschiede zwischen den Erzählungen der Frauen und der Männer?
Täuber: Bei den Männern mischen sich oft politische Analysen in den Bericht, die Frauen reflektieren mehr den Alltag. Ich meine festgestellt zu haben, dass Männer schneller auf die Makroebene projizieren, um das eigene Erleben zu verdrängen.
In einem Bericht wird ein jüdischer Nachbar erwähnt, den man nach einem Angriff auf der Straße verbluten lässt, gelegentlich wird thematisiert, unter welchen Umständen „Fremdarbeiter“ mit in die Bunker durften. Diese Perspektiven tauchen aber nur indirekt auf.
Kuse: Das ist uns bewusst. Dass sich diese vielen Menschen, die den Bomben noch weit schutzloser ausgeliefert waren, allenfalls in den Berichten der anderen spiegeln, ist eine Einschränkung des Gesamtbildes.
In den Darstellungen Ihrer Zeitzeugen finden sich so gut wie keine Ressentiments gegen die Amerikaner oder Briten. Haben Sie da gefiltert, um keine „rechte“ Opferrollen-Lesart zu transportieren?
Kuse: Nein. Wir waren selbst erstaunt, dass unsere Zeitzeugen diesbezüglich sehr zurückhaltend waren. Wenn wir eine solche Aussage gehabt hätten, wäre sie gedruckt worden – als Verweis auf eine mögliche Reaktion auf die Kriegserfahrung.
Täuber: Es spielt sicher auch eine Rolle, dass wir damalige Kinder und Jugendliche befragt haben. Und die haben GIs dann auch mit Schokolade in Verbindung gebracht und sich dafür interessiert, dass man bei ihnen „Mein Kampf“ gegen Kaugummis tauschen konnte.
Bemerkenswert ist ja, wie früh die Bevölkerung bereits auf den Luftkrieg eingestimmt wurde. Schon Mitte der 30er gab es Aufrufe, die Dachböden zu entrümpeln.
Täuber: Das wurde auch kontrolliert. Manchmal findet man auf Dachböden heute noch kleine Plaketten, dies dokumentierten.
Bis 1945 gab es 1.200 Luftalarme und 173 Angriffe. War Bremen stärker betroffen als andere Großstädte?
Kuse: Es gab hier nicht solche Angriffe wie auf Dresden oder Hamburg, wo 1943 im Juli 40.000 Menschen getötet wurden. Mit 173 Angriffen stand Bremen etwa an zwölfter Stelle. Dabei spielten nicht nur die Häfen und die Rüstungsproduktion eine Rolle, sondern auch die geographischen Lage. Bremen liegt in der Einflugschneise unter anderem nach Berlin, auf dem Rückweg wurden hier oft die übrig gebliebenen Bomben ausgeklinkt. Mit mehr als 200 Erd- und über 100 Hochbunkern hatte Bremen allerdings auch eine außergewöhnlich hohe Schutzraumdichte.
Ab wann hat die Bevölkerung realisiert, dass nicht nur die Bremer Häfen und Industrieanlagen, sondern auch sie selbst das Ziel der Bombenangriffe war?
Täuber: Vielen ist das bis heute nicht klar. Es ist ja auch eine gewisse Entlastung, sich selbst aus dem Fokus zu nehmen und zu sagen: Die konnten damals eben noch nicht so genau zielen.
Aber wenn Tiefflieger gezielt auf einzelne Menschen schießen, kann man sich keine Illusionen mehr machen.
Kuse: Das war dann der einzelne Pilot, den man sehen konnte, und von dem man wusste: Der meint jetzt mich. Es gab immer wieder Soldaten im Heimaturlaub, die sofort zurück an die Front wollten – dort fühlten sie sich weniger ausgeliefert. Trotzdem findet sich in den Berichten hin und wieder die Einschätzung, dass das ab 1942 von den Alliierten durchgeführte „Moral Bombing“ nicht das Ziel erreichte, die Bevölkerung zum Aufstand gegen das Regime zu bewegen.
Viele der von Ihnen Interviewten äußern Interesse an weiterem Austausch. Ist das eine zu wenig zu Wort gekommene Generation?
Kuse: Es ist wie eine Flasche, aus der man den Korken zieht. Es gab offenbar oft die Erfahrung, die eigenen Kinder wollen’s nicht hören. Das hat bei einigen unserer Interviewpartner zu einem Gefühl der Resignation geführt.
Täuber: Aber jetzt wird uns gesagt, dass durch das Buch auch in den Familien wieder mehr Gespräche möglich seien.
Kuse: Wir haben eigentlich nur ein oder zwei Zeitzeugen, die regelrecht verbittert sind.