Jeder ist anders, deshalb sagt er ich

Der Anfang vom Ernstfall: Auf der 50. Biennale in Venedig, einem Infopool für politische Auseinandersetzungen, ist Identität der Modus Operandi. Ideen wie Nomadentum, kultureller Transfer, die Solidarität funktionierender Patchworks müssten sich hier den Vorwurf des Zynismus gefallen lassen

Es geht auf der Biennale um Anwesenheit, um Sichtbarkeit

von HARALD FRICKE

An manchen Abenden haben fast alle, die wegen der 50. Kunstbiennale nach Venedig gekommen sind, denselben Weg. Zum Beispiel mittwochs um zehn, da gibt Schottland eine Party, für die eine Turnhalle angemietet wurde. Drinnen laufen Videos, draußen auf dem Hof summt der eingeflogene Jimi Tenor ein paar Freejazz-Melodien: nice, slow und eckig. Danach legen zwei DJs bis Mitternacht Discohits aus den Achtzigerjahren auf, dann ziehen die gut 1.000 Gäste weiter, irgendwo wird schon noch eine Bar aufhaben.

Für die Schotten hat sich der Aufwand gelohnt, sie sind zum ersten Mal mit einem eigenen Pavillon auf der Biennale. Warum sie sich zu diesem Schritt entschlossen haben, darüber kursieren zwei Versionen. Die eine lautet, dass man das starre Konzept des britischen Pavillons in den Giardini nicht mittragen wollte, in dem immer nur ein einzelner Künstler das Vereinte Königreich vertritt. Zu vielfältig sind die Ansätze in der zeitgenössischen Kunst geworden, das will Schottland mit einem guten Dutzend Künstlern zeigen. Die andere Variante sieht in dem Alternativmodell eine länger währende Unzufriedenheit am Werk. Bisher wurde noch nie ein Schotte für den britischen Pavillon ausgewählt, immer kam der Kandidat aus England. Beide Gründe haben unterschiedliche Konsequenzen: Im ersten Fall geht es um die Belange künstlerischer Individualität, die zweite Fassung läuft auf die Frage nach der Legitimität kultureller Repräsentation als Ausdruck einer nationalen Identität hinaus.

Das ist ein Unterschied, der auf der diesjährigen Biennale erstaunlich oft im Fokus steht. Nicht nur bei Kunst made in UK, die letztendlich an beiden Orten flächendeckend vom British Council gefördert wurde. Was bedeutet die Anbindung an eine Nation für das Selbstbild von Künstlern oder gar Institutionen? Immerhin sind 63 Staaten offiziell in Venedig vertreten – eine Verdoppelung in zehn Jahren. Diese Häufung hat einen völlig aus dem Ruder laufenden Wettstreit zur Folge: Jedes Aufmerksamkeitsfenster glänzt, dass man sich drin spiegeln kann. So konnte etwa Olafur Eliasson im dänischen Pavillon die gesamte Kulturmaschinerie für sich arbeiten lassen, um das Gebäude in den Giardini in eine optische Wunderkammer zu verwandeln. Prismenfelder aus poliertem Chrom ragen metertief in die Wände, auf dem Dach wurde ein spezieller Rundbau installiert, der zwar lichtdurchlässig ist, aber aus einem bestimmten Winkel die darin eingefassten schwarzen Scheiben als undurchdringliche Fläche erscheinen lässt. Für eine Camera Obscura konnte Eliasson auf die neusten High-Tech-Linsen zurückgreifen; für ein raumgroßes Stahlkaleidoskop wurde ein irrwitziges Rhombensystem entwickelt. Man staunt über die Möglichkeiten, die Eliasson lässig in seinem Labyrinth durchspielt, und dennoch bleibt die Frage: Ist es Kunst, Zauberei oder Auftrag? Gewonnen hat er trotz der perfekten Allover-Architektur nicht, sondern Luxemburg mit der chinesischstämmigen Künstlerin Su-Mei Tse, die in einem Video ganz in sich versunken vor einer Berglandschaft Cello übt.

Bei einem Land wie Iran ist die Bemühung um kulturelle Anbindung dagegen offensichtlich. Drei Künstler wurden mit Computerprints und Drahtskulpturen im Gepäck nach Venedig geschickt, zur behutsamen Annäherung zwischen den Welten. Auf Konflikte ist keiner der Beteiligten aus, stattdessen merkt man den Druck, nach Jahren der Isolation im internationalen Vergleich bestehen zu können – zumal anerkannte Künstlerinnen von Shirin Neshat bis Parastou Forouhar den Iran vor Jahren verlassen mussten. Auch die Volksrepublik China wollte dieses Jahr mit einem Pavillon guten Willen zeigen, entschied sich aber wegen der Sars-Epidemie zur Absage. Doch hat ausgerechnet ein seit Jahrzehnten etabliertes Biennale-Land wie Venezuela dem Web-Künstler Pedro Morales die Teilnahme verboten, weil seine virtuelle Alltagssimulation „4 Rooms“ (pedromorales.com) auf den Konflikt mit der Chávez-Regierung eingeht.

Zur Eröffnung steht Morales vor dem verschlossenen Pavillon, verteilt Flyer, die den Zensurfall dokumentieren, und hofft darauf, dass ihm die Biennale-Leitung einen alternativen Ausstellungsort anbietet. Doch auch das wäre keine passable Lösung, zu sehr ist der Skandal ein Affront gegen die gemeinsame Sache aller beteiligten Länder – und nicht bloß eine Schlichtungsaufgabe mehr für die Administration. Ansonsten hätten die Verantwortlichen auch beim mexikanischen Künstler Santiago Sierra eingreifen müssen, der auf Einladung von Rosa Martinez, der Kuratorin für Spanien, seine rassistischen Fantasien ausleben darf. Das Gebäude wurde vermauert, durch den Seiteneingang haben nur Menschen mit spanischem Pass Einlass, der Rest wird von Türstehern zurückgewiesen. Richtig zu stören scheint sich daran niemand, es ist ja nur ein bisschen Terrorshow, als böse Umkehrung der realen Verhältnisse lateinamerikanischer Flüchtlinge.

Oder ist Sierra nicht doch eher der Anfang vom Ernstfall? Vor zehn Jahren hatte der damalige Biennale-Chef Achille Bonito Oliva als Reaktion auf den Krieg in Ruanda und die ethnischen Konflikte auf dem Balkan dazu aufgerufen, Künstler aus anderen Nationen in die Länderpavillons einzuladen. Dieses pointierte Statement passte in die Gemengelage eines globalen Nomadentums, in dem Künstler ihre ruhelose Existenz gerne als Avantgarde der Migration definierten. Heute müsste sich eine solche Haltung den Vorwurf des Zynismus gefallen lassen – zu viele Menschen sind aus Angst vor Terror und wirtschaftlicher Not auf der Flucht, werden von totalitären Regimes unterdrückt oder vertrieben. Plötzlich ist auch Kunst, will sie solche Lebenszusammenhänge reflektieren, nicht mehr ortlos, ein rhizomatisches Geflecht, das bald hier, bald dort wuchern kann. Wie in einer ernüchternden Gegenbewegung zum Wunsch nach weltweiter Kommunikation und kulturellem Transfer während der Neunzigerjahre findet nun eine Reterritorialisierung statt. Identität wird nicht mehr dekonstruiert, sie ist der Modus Operandi. Jeder ist anders, deshalb sagt er ich.

Einige dieser Ichs sind in Form von überdimensionalen Reisepässen über das Gelände verteilt. „Stateless Nation“ ist eine Gemeinschaftsarbeit der aus Bethlehem stammenden Architektin Sandi Hilal und dem Italiener Alessandro Petti. Sie haben Ausweispapiere von Personen aus dem Nahen Osten vergrößert, die keiner Nationalität angehören. Manche besitzen nur eine befristete Aufenthaltsgenehmigung für Italien, andere haben einen syrischen oder sudanesischen Pass, leben aber im Exil. Ursprünglich als offizieller Beitrag eines palästinensischen Pavillons gedacht, sind die so genannten „Interventionen“ Barrieren, die den Parcours entlang der Ländervertretungen blockieren. Ganz ähnlich geht Catherine David vor, die für die von ihr geleitete Sektion „Contemporary Arab Representations“ libanesische Künstler ausgewählt hat. Auf fünf kinoleinwandgroßen Videoprojektionen wird hier eine Kartografie des Nachkriegslibanon gezeichnet, die immer wieder aufzeigt, dass das Land nie im Frieden angekommen ist. Man sieht zerbombte Dächer, auf denen Familien sich zu Festlichkeiten treffen, ringsum türmen sich Satellitenschüsseln.

Das Bild verdichtet die Spannungen, die vielleicht auch Biennale-Chef Francesco Bonami mit seinem schwammigen Konzept „Dreams and Conflicts – The Dictatorship of the Viewer“ meint. Wer bestimmt, wie das Verhältnis zwischen Sender und Empfänger aussieht? Der Staat? Die Gesellschaft? Das System? CNN? Und gibt es das überhaupt noch – ein Monopol auf Bilder? Während Bonami dabei aber eine Amerikanisierung des Ausstellungswesens im Sinn hat, durch die der Betrachter gezielt – und das heißt für ihn vor allem: schneller – an die Problemfelder herangeführt werden soll, mit denen sich Kunst beschäftigt, sieht David die Biennale als konkreten Infopool für politische Auseinandersetzungen. Alles andere wäre eine Spielwiese für Künstler, die vergangenen Utopien nachhängen. Auch die gibt es, am Ende des Rundgangs durch das Arsenal: In einem Garten steht ein Dutzend Buden, bunt verhängt, zum Chill-out freigegeben. Paradiesische Zustände könnten in diesem Christiania der Kunst herrschen. Doch der 1922 geborene Filmemacher Jonas Mekas weiß es besser: Er hat ein Video eingereicht, Dokumentaraufnahmen osteuropäischer Emigranten in Williamsburg, New York, Anfang der Fünfzigerjahre. Das war für ihn ein glücklicher Moment, bevor die Künstler mit ihren Utopien einzogen und das Viertel zum schicken Galerientreffpunkt machten.

Es geht auf der Biennale um Anwesenheit, um Sichtbarkeit, stärker als je zuvor. Politische Forderungen lassen sich offenbar nur formulieren, wenn man nicht stellvertretend für diffuse Minderheiten spricht und dabei im Stillen auf die Solidarität eines funktionierenden Patchworks hofft. Nach den universitären PC-Debatten werden die Kämpfe um Teilhabe in der kulturellen Chefetage ausgefochten. Deshalb stellt Chris Ofili im britischen Pavillon die gewohnten ethnischen Zuordnungen bloß, indem er als Nachfahre nigerianischer Einwanderer das gesamte Gebäude schwarz, rot und grün gestrichen und den Union Jack zum Banner für Red, Black and Green umgefärbt hat. Im Symbol der entstellten Flagge wird sein stolzes Auftreten als Angehöriger des Commonwealth kenntlich. Die nationale Zugehörigkeit ist hier kein verlegener Kompromiss, sie dient offensiv als Ausdruck seiner afrobritischen Herkunft, so wie Ofilis auch die Elemente traditioneller Stammeskultur aufnimmt, um sie in Genreszenen nach Art der Romantik zu überführen.

Das heiterste und gewiss schönste Bild aber hängt unscheinbar neben einer Treppe im italienischen Pavillon, für den sich der schwedische Kurator Daniel Birnbaum das Themenpaket „Delays and Revolutions“ ausgedacht hat. Rikrit Tiravanija aus Thailand hat es gemalt, eine matschige schwarze Fläche, schuhkartondeckelgroß, darauf in weißen Buchstaben die Worte „less oil, more courage“. Der Satz hat den Witz auf seiner Seite, ob als Kommentar auf den Irakkrieg oder als ironische Volte angesichts der Rückkehr zur Malerei. Er ist politisch, sogar mit Stil.

Bis 2. 11., Venedig. Katalog: 60 €