Multikulti die Tür geöffnet

Mit rechten Sprüchen gegen Muslimisches machte sich der Niederländer Pim Fortuyn bekannt. Vor zwei Jahren wurde er erschossen. Seinem Tod zum Trotz: Fortuyns Tabubrüche ermöglichten die Debatte um echte Multikulturalität

VON GERBERT VAN LOENEN

Früher, als die Niederlande noch links waren, pflegte man nicht über Integration von Zuwanderern zu sprechen. Wenn’s schon Probleme gab, dann wurden sie sozioökonomisch gedeutet. Konflikte zwischen Ureinwohnern und Migranten konnten nur in Arbeitslosigkeit, schlechten Wohnungen oder miesen Ausbildungen begründet liegen! Das war die gesellschaftlich akzeptierte Sprachregelung bis vor zwei Jahren.

In Wirklichkeit redeten viele, einheimische und eingewanderte Niederländer, im Alltag längst schon über kulturelle Differenzen. Als die Sprachregelung noch politisch korrekt war, sprach man jedoch in Kneipen, Cafés, Supermärkten, in Schulen und in Nachbarschaften sehr wohl über die verwirrenden Unterschiede zwischen den alten und den neuen ethnischen Gruppen.

Dass die neuen Landsleute über Frauen, die sich ohne männliche Begleitung im Schwimmbad aufhalten, abfällig denken. Dass sie über Homosexuelle eine andere Meinung haben, schließlich können sie echten Männer oder Frauen nicht sein, weshalb man sie belästigen dürfe. Dass sie sich außerdem der Mülltrennung verweigern.

Es war ein Murmeln unterhalb der offiziellen Debatten. Jedenfalls: Die Linke, die angeblich für Schwulen-, Lesben- und Frauenrechte so viel übrig hatte, codierte die allmählich aufkeimende Debatte über Homophobie und Frauenfeindlichkeit unter Migranten sofort auf Stichworte wie Wohnungsmangel und Arbeitslosigkeit um.

Ein Argumentationsmuster, das allerdings gegen Ende der Neunziger an Glaubwürdigkeit einbüßte, denn zum Ende des Jahrzehnts gab es in meinem Land einen Boom. Nun sank die Arbeitslosigkeit unter zwei Prozent, die letzte schlechte Wohnung wurde mit Staatszuschüssen instand gesetzt. Selten ging es den Niederlanden ökonomisch so gut, selten auch waren die Probleme mit dem Zusammenleben von mehreren Kulturen so groß. Die Lebenslüge des angewandten Marxismus, der kulturelle Missverständnisse auf Mangel an Beton und Wirtschaftswachstum reduziert hatte, war jetzt offenkundig.

Diese Verneinung der kulturellen, der mentalitären, der religiösen Aspekte des multiethnischen Zusammenlebens war genau der Nährboden, auf dem ein politischer Außenseiter namens Pim Fortuyn gedeihen konnte. Die Zeit war reif: Hätte es Fortuyn als politische Figur nicht gegeben, wäre ein anderer auf dessen Themen gekommen. Sie waren ja längst da, auf Schulhöfen, in Diskotheken und Schwimmhallen.

Seit Pim Fortuyn auf seine theatralische Art dieses Thema angestoßen hat, gibt es in den Niederlanden eine intensive Debatte über Identität, Kultur – und Integration zwischen unterschiedlichen Gruppen. Dabei kamen unter einheimischen Niederländern durchaus Hass und Wut hoch, und zwar auf Zuwanderer sowie auf linke Politiker, die für die traditionelle Sprachregelung verantwortlich gemacht wurden.

Fortuyn schuf geschickt das Bild eines „Systems“, dem er ironischerweise selbst angehörte, denn er zählte ja zur Generation der Achtundsechziger. Sie jedoch mache mit muslimischen Migranten gegen den einfachen Niederländer gemeinsame Sache. Mit Fortuyn fühlten viele Bürger sich endlich ernst genommen – deshalb konnte er sich zum Anwalt des „kleinen Mannes, auf den nie gehört wird“, stilisieren.

Populistisch war Fortuyn durchaus, und Angst vor Überfremdung, Zuwanderern und dem Islam war gewiss sein Nährboden. Wer ihn deshalb als Rechtspopulisten darstellt, hat von den Niederlanden keine Ahnung. Die Verwandtschaft zwischen Deutschland und den Niederlanden mag sehr groß sein, aber es gibt einen Unterschied: Niederländer suchen, anders als Deutsche, gerne die Zweideutigkeit.

So wie Niederländer mit Gesetzen und Hierarchien umgehen, so gehen sie manchmal auch mit Identitäten um: spielerisch. Und Pim Fortuyn beherrschte dieses Spiel meisterlich. Obwohl Spross aus der katholischen Elite, machte er sich zum Vertreter der Zukurzgekommenen. Schwärmte, unverschämt schwul, von Darkroomerlebnissen und verklärte die Fünfziger, als die Niederlande noch die Niederlande waren. Er, einst Marxist, der Überfremdung anprangerte, forderte zugleich, abgelehnte Asylbewerber zu integrieren, wenn ihnen Abschiebung drohte.

Es war erst dieses Spiel der Identitäten, dieses Theater eines frechen Jungen, der sich nicht mehr an den Comment halten wollte, das ihn für Niederländer wählbar machte. Ein ausländerfeindlicher Rechtspopulist hätte nie so erfolgreich werden können. Nur einer wie Pim Fortuyn, der zur rechten Zeit Konservatismus bot, ohne konservativ zu wirken, konnte es bei den Wahlen am 15. Mai 2002 auf Anhieb mit siebzehn Prozent in das Parlament schaffen.

Zu dem Zeitpunkt war er allerdings schon tot. Erschossen am 6. Mai 2002 im Mediapark in Hilversum, wo er eben gerade ein Radiointerview gegeben hatte, wurde Pim Fortuyn neun Tage später postum in die Zweite Kammer gewählt, und mit ihm noch 25 Parlamentsmitglieder seiner erst drei Monate zuvor eilends gegründeten „Liste Pim Fortuyn“.

Niemals werden wir wissen, wie viele Bürger ihn gewählt hätten, wenn er nicht kurz vor der Wahl ermordet worden wäre. Einerseits haben sicherlich einige ihn wählen wollen, sich aber nach dem Mord an der Wahl nicht mehr beteiligt, andererseits haben Menschen, die ihn eigentlich nicht hätten wählen wollen, aus Protest gegen die Gewalt ihm ihre Stimme gegeben.

Sein Mörder, ein inzwischen verurteilter Tierschutzaktivist, hat einen Menschen seiner Meinung wegen getötet. Dabei hat er außerdem der Demokratie eine grandiose Chance zum Lernen genommen. Denn wie es ausgegangen wäre, wenn Pim Fortuyn nicht postum, sondern lebendig ins Parlament gewählt worden wäre, kann und konnte man vermutlich am besten in Deutschland sehen, und zwar in Hamburg.

Wird eine Partei von einem charismatischen Außenseiter gegründet, der nachweisbar zu kollegialer Zusammenarbeit in seinem Leben nur selten im Stande war, dann bedarf es höchstens zweier Jahre, bis die Partei sich selbst zerfleischt und so ihre Wähler eines Besseren belehrt hat. Wir werden es nie wissen, aber zu groß ist die Ähnlichkeit mit Ronald Schill, um nicht zu vermuten, dass der Mythos Pim Fortuyn, wenn er nicht erschossen worden wär, sich binnen kürzester Frist erledigt hätte.

Das war vielleicht die wirklich gefährliche Seite des Pim Fortuyn: Dass sein Talent, die richtigen Probleme zu benennen, nicht einherging mit einer Fähigkeit, diese auch nur ansatzweise zu lösen. Die Enttäuschung seiner Wähler war deshalb programmiert. Jetzt aber können seine Anhänger immer behaupten, es wär alles anders gekommen, wenn man nur Pimmetje (Kosename) nicht ermordet hätte. Der Mythos ist auf ewig unschlagbar geworden.

Wie auch immer, jetzt, zwei Jahre nach dem Mord, hat sich in meinem Heimatland vieles geändert. Pim Fortuyn mag tot sein, seine Partei ist bei vorgezogenen Neuwahlen im vorigen Januar auf acht Sitze geschrumpft, sein Erbe ist im Lande präsent. Man spricht von „oude politiek“ und „nieuwe politiek“, und diese neue Politik gibt es „sinds Pim“, eben seit Pim Fortuyn kam und seinen Mund aufmachte.

Auffällig ist die neue Gangart in der Integrationspolitik. Seit 2002 ist die Debatte in den Niederlanden um Asyl und Migration aggressiver geworden. Ob Fortuyns Credo „Ich sage, was ich denke, und ich tue, was ich sage“ der ohnehin schon ziemlich schroffen niederländischen Gesellschaft wirklich weiterhilft, darf bezweifelt werden. Ebenso auffällig ist aber, dass die moralisch-ideologische Käseglocke, unter der es schon zu lange zum Himmel gestunken hatte, aufgehoben worden ist und sich jetzt frische Luft einmischt.

So werden die Niederlande nun erst zu einer selbstbewussten Zuwanderungsgesellschaft. So lange es in jedem Dorf gerade einen Menschen türkischer Provenienz gab, konnte man über Ausländer reden, als seien sie Schutzbefohlene, denen es zu helfen gilt. Wenn ein Land dagegen eine Zuwanderungsgesellschaft wird, wenn in Metropolen wie Amsterdam und Rotterdam eine Mehrheit der Schüler nichtwestlicher Herkunft ist, dann hat das klassische Denken Linker in den Kategorien von Opfern (die Einwanderer) und Tätern (wir, die Eingeborenen) ausgedient.

Das wurde auch Zeit: Jetzt beginnt ernsthaft multikulturelles Denken.

Mit blauäugigem Gelaber („alles so schön bunt hier auf den Straßen“) hat dies nichts zu tun. Denn in einem Land, das eine selbstvertraute Zuwanderungsgesellschaft wird, stellt man sich unvermeidlich die Frage, auf was man verzichten kann und auf was nicht. Der Zuwanderer hat sich das immer schon fragen müssen, der Einheimische fängt damit an, wenn die Zuwanderung im Alltag sichtbar wird.

Fragen drängen sich auf. Beispielsweise: Welche Werte sind unverzichtbar, welche nicht? Darf eine Kultur einer Frau abverlangen, ein Kopftuch zu tragen? Darf sie von ihr fordern, kein Kopftuch zu tragen? Sollten Schwule und Lesben ihre Homosexualität weniger offen zeigen, zumal in einer Stadt wie Amsterdam, in der Mohammed der gebräuchlichste Name unter neugeborenen Jungs ist? Sollten Muslime ihre demokratische Gesinnung ständig unter Beweis stellen – oder gilt auch für sie die Unschuldsvermutung?

Sollten marokkanische Schüler die Geschichte des Holocaust kennen lernen – oder sollte man lieber darauf verzichten, weil der israelisch-palästinensische Konflikt es schwierig macht, dieses Thema zu vermitteln? Scheitert die Integration einiger Zuwanderer vielleicht deshalb, weil die einheimische Kultur zu unreligiös geworden ist? Reicht Gesetzestreue – oder braucht eine Gesellschaft gemeinsame Werte?

Man könnte es auch so sagen: In den Niederlanden wird im Moment über Leitkultur gestritten. Dieses Wort von Friedrich Merz, in Deutschland sofort effizient wegskandalisiert, ist tatsächlich, auf Deutsch, in der niederländischen Debatte aufgegriffen worden.

In ihr spielen zugewanderte Niederländer eine große Rolle. Das Land mag politisch unkorrekt geworden sein, es ist jedoch immer noch eine offene Gesellschaft. Anders als in Deutschland, wo alle Parteien sich extrem schwer tun, Politiker, die eingewandert sind, auf ihre Wahllisten zu setzen, wimmelt es im niederländischen Parlament geradezu von neuen Niederländern.

Und wer zu wissen meint, wie man sich mit Zuwanderern solidarisiert, sollte mal auf diese Politiker hören. Wie zum Beispiel auf Ayaan Hirsi Ali, eine Rechtsliberale somalischer Herkunft, die sagt, dass die westlichen Werte auch gegen den fundamentalistischen Islam verteidigt werden müssten. „Aufklärungsfundamentalistin“ wird sie deshalb bereits genannt, gar Befürworterin eines „liberalen Dschihads“.

Dagegen pochen, aus deutscher Perspektive sicher überraschend, Christdemokraten auf das urniederländische Erbe der Religionsfreiheit, das sie gegen jenen „liberalen Dschihad“ verteidigen möchten, indem sie es ohne Einschränkungen auf den Islam ausgeweitet sehen wollen. Neben protestantischen und katholischen Schulen wollen sie auch muslimischen Lehranstalten volle Unterstützung zukommen lassen.

Eine exmuslimische Frau, die gegen den Islamismus kämpft, eine christlich-demokratische Partei, die muslimische Schulen fördert: Es deuten sich neue Allianzen an, auch überraschende Gegensätze. Logisch, wenn es keine Mehrheitsgesellschaft mit Minderheiten, sondern nur Minderheiten gibt.

Weshalb sich seit zwei Jahren das ganze Land fragt, was die Bürger noch bindet – und wie viel Trennendes man gerade noch aushalten kann.

Viele Bürgerinnen und Bürger mischen sich da ein, in Kneipen, Schulen, Wohnsiedlungen, am Arbeitsplatz – manchmal öffnen sich Abgründe von Hass und Missverständnis, aber letztendlich gibt es das, was man am meisten braucht in einer demokratischen Gesellschaft: eine offene Debatte über die gemeinsame Zukunft.

GERBERT VAN LOENEN, Jahrgang 1964, lebt seit vier Jahren in Berlin als Korrespondent der liberalen niederländischen Zeitung De Trouw