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Hitler und Stalin verliefen sich im Wald

von ANDREAS NEUMEISTER

“Stalin wasn‘t stallin‘“ (Robert Wyatt)

I

Urlaub in ZarizynUrlaub in Stalingrad Urlaub in Wolgograd

Orte, die man aus dem Fernsehen kenntOrte, die man nicht aus dem Fernsehen kenntOrte, an denen man selber war

seltsame Anreise: MUC – VIE – TLL

Mutter sagte Reval, meinte aber Tallinn. Schwäne auf der Ostsee! Auch die schnarrenden Stockenten sind hier unterwegs. Auf dem Meer, das eigentlich ein See ist. Im Gegensatz zur Nordsee, die tatsächlich ein Meer ist. Tests haben ergeben: kaum Salz in der Ostsee. Kaum mehr Austausch mit Nordsee und Atlantik. Tallinn – Stockholm: Die Ostsee kann auch anders. MS Estonia klingt stolz. Watchtowers all along the coast. Noch achtzig Kilometer bis Helsinki. Achtzig Kilometer über den finnischen Meerbusen. Jeder Turm in Sichtweite zum nächsten. Die ganze Küste, mit all ihren Buchten, war tatsächlich überwacht. Sollen die Leute doch wo anders baden!

Urlaub in Leningrad: noch 350 Kilometer bis Petersburg. Wie lange, das ist die Frage, ist die Küste der Ostsee? Alles relativ – je länger, je genauer man hinsieht

Tartu suggestions: 21. Doctor‘s Hill aka Slow Death 47. The Senf Stairs

Wo überall Menschen wohnen! Wohnen und mitten in der Pampa aus dem Bus aussteigen. Auch im Dunkeln. Weit und breit kein einziges Licht auch nur eines einzigen Hauses!

Drei Hauptstädte an einem Tag: die geistige Hauptstadt, die Winterhauptstadt, die tatsächliche Regierungshauptstadt. Von Tartu nach Otepää und noch am selben Tag wieder in die Hauptstadt zurück

II

Sonntag, 15.9. Alexander-Newski-Kathedrale. Gottesdienst in archaisch wirkender, ritualisierter Spezialsprache (vergleichbar dem Lateinischen?) Nix reformiert, nix modernisiert, von wegen Gegenreformation. Ständiges Reinundraus während des Gottesdienstes, permanentes Umhergehen der Gläubigen, viele unterhalten sich. Beichten (?) während der Messe in Beichtstühlen (?) seitlich. Hyperkomplexe Choreographie der gesamten Messe. Gemischter Chor, nix Orgel. Immer wieder Gesangspausen, allmähliches Wegdriften des Gesangs und dann gehts wieder mit aller Macht los. Dauerndes komplexes Bekreuzigen (?) mit anschließendem Verneigen. Alle Frauen mit Kopftüchern oder sonstiger Kopfbedeckung. Altar sozusagen Backstage; ständiges Hinundher durch Türen einer Wand vor dem eigentlichen Altar. Viele Priester. Heute: Priesterweihe? Oder sonst was Besonderes? Der Pferdeschwanzpriester. Alles wird geküsst: die Reliquien hinter Glas (ständiges Wischen der Scheiben), Gläubige küssen Priester, Priester küssen Priester. Während der Messe: man steht, nix Knien, nix Sitzen (außer einige der allergebrechlichsten Besucher). Ständiges Zettelschreiben. Was wird geschrieben? Gläubige stecken den Priestern Zettel zu. Russisch-orthodoxe Gottesdienste, frage ich nach, dauern vier bis fünf Stunden, ihr Verlauf hat sich in Jahrhunderten nicht verändert. (Daher also das ständige Reinundraus und das Umhergehen.) Die Kirchensprache (Altslawisch), frage ich nach, wird von den allermeisten Gläubigen nicht verstanden. Estland, frage ich nach: über dreißig Prozent Russen, hier gerade mal geduldet, wollen nicht mehr „heim“

III

Mussolini zuliebe: Südtiroler auf die KrimHitler zuliebe: Krimtartaren hinter den Ural

der Hitler-Stalin-Pakt – die geheimen Zusatz-Protokolle; Absprachen, die frei assoziierte Neuordnung Osteuropas betreffend

Die meisten der Nachtreisenden kamen direkt in das als Fabrik 1005B getarnte Fort IX, Kaunas/Memel

Memelland und Pommerland, klingt alles gleich weit entfernt. Alles relativ. Nach 700 Jahren, musste Hitler nur appellieren: Deutschbalten „Heim ins Reich“. Deutsche Ritter machen sich ohne großes Murren auf den Weg

IV

Wer ist Fritz Schmenkel gleich wieder gewesen?

Um 12 Uhr 30 betraten wir am S-Bahnhof den Stadtteil Berlin-Karlshorst. Wir gingen in die Fritz-Schmenkel-Straße. Wir näherten uns der ehemaligen Festungspionierschule. Wir betrachteten einen vor der ehemaligen Festungspionierschule abgestellten Panzer vom Typ T 34 mit kyrillischer Aufschrift. Wir begaben uns in das „Museum der bedingungslosen Kapitulation des faschistischen Deutschland im Großen Vaterländischen Krieg 1941–1945“. Kurz nach 13 Uhr betraten wir den Lenin-Saal des Kapitulationsmuseums in Karlshorst. Vom Tonband die Stimme Lenins

Stalin hasste das Fliegen. Auch den langen Weg von Moskau nach Potsdam überwand der Generalissimus mit dem Zug. Steigerung von General: Generalissimus. Die lückenlose Observation der gesamten Strecke von Moskau nach Potsdam und zurück als unvermeidbarer Aufwand. Die lückenlose Observation der gesamten Strecke von Moskau nach Potsdam und zurück als schier nicht zu bewältigende Aufgabe. Der Stählerne: eigentlich Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili

Hitler und Stalin trafen sich im Wald

die tragischere Gestalt? eindeutig Stalin

Geschichte kommt womöglich von Schichten, vom Aufeinanderschichten chronologisch aufeinander folgender historischer und prähistorischer Schichten. Deutschland ist nur mehr ein geographischer Begriff, wie Stalin in Potsdam mit Genugtuung bemerkte. Ohne Jalta hätte es Potsdam nie gegeben, ohne Potsdam wäre es zu Westberlin nie gekommen, ohne Potsdam hätte nie ein Ostberlin mit einem Bonn am Rhein verhandelt. Cecilienhof/Potsdam, im historischen Sommer 1990: rote Blumen arrangiert zum roten Stern vor dem historischen Ort

war Marx Marxist? war Lenin Leninist? war Trotzki Trotzkist? war Stalin Stalinist?

Abb.: Guido Knopp im Gespräch mit Josef Stalin

Himmler fragt: wieviele Menschen hat denn der Russe? (Himmlers Posener Geheimrede als geheimste Rede von allen)

Abb.: Guido Knopp im Gespräch mit Heinrich Himmler

Tanz den Mussolini Tanz den Stalin Tanz den Adolf Hitler

(immer hat Vater von General Tito, nie hat Vater von Generalissimus Stalin geredet)

V

die Arbeiter aller Länder wissen, dass jedes von Stalin gesprochene Wort das Wort des Volkes ist

die Arbeiter aller Länder wissen, dass auf jedes Wort die Tat folgt

von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen

sozialistischer Realismus soll die Niederlagen der Arbeiterklasse nicht überbewerten

sozialistischer Realismus soll der Arbeiterklasse nicht den Mut zu bevorstehenden Kämpfen nehmen

von der Sowjetunion lernen, heisst: ja, im Kreml brennt noch Licht

VI

everything is bigger in Russia everything is bigger in Moskow

Anfangs war ich für die Astronauten und gegen die Kosmonauten. Später war ich für die Kosmonauten und gegen die Astronauten. Illuminiert wie ein Musikdampfer treibt die Erdkugel durchs All. Am hellsten leuchtet Moskau (die roten Lichtflecken in Nordsee und Sahara stammen von Gasabfackelungen über Erdölfeldern in Nordsee und Sahara)

Dschingis Khan singen: Moskau, Moskau, Rußland ist ein schönes Land, wir werfen die Gläser an die Wand, ho-ho-ho-ho-ho

Massage, you want massage? Hotel Russija: sechs Uhr morgens

Eine heftig verehrte, Tafel mit religiösem Motiv am Eingang des Roten Platzes war ersetzt worden durch die bekannte Inschrift: „Religion ist Opium für das Volk“. Des Lesens nicht mächtige Bauern bekreuzigten sich auch weiterhin an eben dieser Stelle

Abb.: Kremlflieger Mathias Rust auf dem Roten Platz

VII

erste Polnische Teilungzweite Polnische Teilungdritte Polnische Teilung

Polen: „die Nation auf Rädern“

Jahrelang dachte ich, Galizien läge im Norden von Spanien. Jahrelang dachte ich, Galizien läge im Süden von Polen. Jahrelang dachte ich, die Extremadura läge wenn, dann irgendwo in Argentinien, jetzt erst sehe ich deutlich, sie liegt direkt im alten Europa. Die Europa ist ein Stier. Europa ist auch so ein schönes Wort mit einer überwiegend häßlichen Geschichte. Europa als linke Hälfte eines Doppelkontinents. Europa als westlicher Ausläufer von Asien. Direct flights to Prag and other German cities. Japanern, die Europareisen buchen, werden die einzelnen europäischen Länder als Landschaften vorgestellt. Wie viele Stockwerke hat das Europäische Haus? Ist die neue Weltordnung eine Art Hausordnung? Schon ist Europa zum Haus geschrumpft, dann müsste die Welt ein Weiler sein. Wie viele Häuser hat das böhmische Dorf? Wie viele Tische hat die polnische Wirtschaft? Ententeiche inmitten dieser Dörfer nordöstlich des Balaton. Und das zum Anfang des dritten Jahrtausends!

VIII

Autonome Oblast der Bergkarabachenwas ist aus den Bergkarabachen eigentlich geworden? Autonome Oblast der Bergbadachschanen was ist aus den Bergbadachschanen eigentlich geworden?

alles weit alles relativ alles relativ nah

alles nah alles relativ alles relativ weit

als es noch weiße Flecken auf den Landkarten gab, die nicht bloß Gletscher anzeigten, gab es noch weiße Flecken auf den Landkarten, die unerforschte Territorien anzeigten

No-go-areas to go to, no-go-areas not to go to. Kenne niemanden, der je vom Kaspischen Meer zurückgekommen wäre. Kenne niemanden, der je am Kaspischen Meer angekommen wäre. Urlaub in Arsamas-16. Urlaub in Tschelabinsk-65. Zentralrussland klingt nicht besonders zentral. Kenne niemanden, der jemals zum Kaspischen Meer aufgebrochen wäre was ist aus dem 6726 Meter hohen Pik Karl Marx eigentlich geworden? was ist aus dem 6510 Meter hohen Pik Engels eigentlich geworden? wie heißt der Pik Engels auf den neuesten Landkarten? was ist aus Leninabad eigentlich geworden?

Abb.: Duschanbe International Airport

von Zarizyn über Stalingrad nach Wolgograd, von St. Petersburg über Petrograd und Leningrad auf dem direktesten Weg zurück nach St. Petersburg

Vereinigungen und Teilungen, konvulsuvische Umbenennungen (Reste von Spalthütten finden sich zwischen Birken und Fichten)

IX

Brüder zur Sonne, zur Freiheit, ans Licht

Abb. 57: „In den Fabrikschloten den Wunsch wecken, der aufgehenden Sonne ein Loblied zu singen, Chlebnikovs Konzert der Fabriksirenen und Dampfpfeifen, Baku, 7.11.1922“

gibt es die Neue Weltordnung schon?

George W. Bush sagt: wenn Rußland westwärts schaut, sieht es keine Feinde mehr

Andreas Neumeister ist Schriftsteller und veröffentlichte zuletzt den Band „Angela Davis löscht ihre Website“ (Edition Suhrkamp). Diesen Text schrieb er für die Anthologie „Osten - in sechsundzwanzig Geschichten um die Welt“, erschienen im Blumenbar Verlag, München 2003, 443 Seiten, 24 Euro

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