Lichtgestalten strahlen länger

Cannes Cannes (8): Während Michael Moore und Jean-Luc Godard um Agitprop und Fortschritt streiten, inszeniert Walter Salles den jungen Che Guevara als Lichtgestalt. Aber je mehr Kino man sieht, desto mehr langweilt Konvention, und man sehnt sich mit dem französischen Altmeister nach Verwirrung

VON CRISTINA NORD

Während das Festival seinem Ende zueilt, gibt es noch einmal Verwirrung. Wong Kar-Wais lang erwarteter Spielfilm „2046“ hätte der Presse gestern in der Früh gezeigt werden sollen, doch seit Dienstag steht der Termin zur Debatte, da die Kopie noch nicht eingetroffen ist. „2046“ begleitete schon vor einem Jahr das Gerücht, dass sein Regisseur große Schwierigkeiten habe, zu einem Ende zu kommen. Durch die Verzögerung und die dadurch verursachte Umprogrammierung der Wettbewerbsvorführungen wird das Gerücht natürlich bekräftigt, und in den Teilen meines Kopfes, die noch nicht von den Bildern der schon gesehenen Filme besetzt sind, male ich mir aus, wie Wong Kar-Wai, der Kameramann Christopher Doyle und der Cutter William Chang Suk-Pik am Schneidetisch sitzen, während die Zeit ohne jedes Erbarmen voranschreitet.

Jean-Luc Godard stiftete Verwirrung, als er die Pressekonferenz zu seinem neuen Filmessay „Notre Musique“ („Unsere Musik“) den protestierenden Intermittents überließ. Außerdem bezweifelte Godard, dass Michael Moore politisch radikales Kino mache. Der gefeierte Moore, so Godard, helfe Bush, anstatt ihm zu schaden. Was die alte – und im Rahmen dieses politisierten Festivals brisante – Frage aufwirft, ob Agitprop überhaupt je fortschrittlich sein kann.

Wie Godards Antwort ausfällt, liegt auf der Hand, und sein am komplexen Aufbau von Dantes Dichtung „Göttliche Komödie“ geschulter Film „Notre Musique“ untermalt es von Neuem: Man hüte sich vor allem, was einfach zu verstehen ist. Man setze auf eine Mehrsprachigkeit, die keinen Hehl daraus macht, dass sie in der Übersetzung verliert. Man kombiniere Text und Bild nicht auf eine sich ergänzende Weise, sondern nutze ihren parallelen Lauf für Befremden. Mit diesen Mitteln entwirft Godard ein Tryptichon aus Hölle, Fegefeuer und Paradies, dessen Mittelteil im Sarajevo der Gegenwart angesiedelt ist, aber auch nach Palästina und anderswohin ausstrahlt.

Der Regisseur Walter Salles aus Brasilien hingegen optiert für das Naheliegende. Sein „Diarios de motocicleta“ („Motorradtagebücher“) setzt auf die Mittel des Erzählkinos. Der Film reinszeniert die Reise, die der junge Medizinstudent Ernesto Guevara de la Serna unternommen hatte, bevor er zum Revolutionär Che wurde. Anfang der 50er-Jahre war das, es ging von Buenos Aires in den Süden Argentiniens, von dort aus nach Chile, Peru, ins Amazonasgebiet und schließlich nach Venezuela. Eine Initiation, insofern Guevara aus der bürgerlichen Existenz herausglitt, je weiter er sich von Buenos Aires entfernte.

Der mexikanische Schauspieler Gael García Bernal – in Pedro Almodóvars Eröffnungsfilm spielte er die Figur des Juan – gibt den Revolutionär in spe mit verführerischem Blick und aufregend sich kräuselnden Lippen. Die Figur gerät ihm zur Lichtgestalt, beseelt ist sie von so viel Leidenschaft und Idealismus, dass sie jenseits von Fehl und Tadel steht. Die Initiation wird von Salles nicht wirklich erschlossen, sondern eher behauptet: Einer Hagiografie tut es niemals gut, wenn man sich die Dinge aus der Nähe anschaut.

Das heißt nicht, dass „Diarios de motocicleta“ in dem Rahmen, den der Film sich selbst steckt, nicht funktionierte. Doch ein wenig konventionell ist es dann doch. In Erinnerung bleibt indes, wie wenig sich die rekonstruierten Landschaften der 50er von dem unterscheiden, was der Reisende heute in Lateinamerika sieht. Dass die Unterentwicklung von damals der Unterentwicklung von heute so ähnlich sieht, ist sicherlich kein Fehler des Produktionsdesigns, sondern einer der Politik.