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Archiv-Artikel

Fallende Vasen

Wie ein Apfelkern auf einer gefrorenen Schneedecke: Ein von Peter von Matt herausgegebener Auswahlband erinnert an die Schweizer Erzählerin Adelheid Duvanel

VON OLIVER PFOHLMANN

„ ‚Mir kann niemand helfen‘ “, sagt eine ihrer Figuren, „ ‚man müsste meine Seele so in beide Hände nehmen (er stellt sich vor, er forme mit den Händen eine Schale) und wärmen, aber meine Seele ist zu groß und meine Hände sind zu klein.‘ “ Mit einer für diese Welt zu großen Seele sind alle Protagonisten der Schweizer Erzählerin Adelheid Duvanel ausgestattet. Fragil und autistisch erscheinen sie, eingesperrt in soziale Höllen und triste Mietskasernen, deren Fenster vom Himmel nur einen Fetzen sehen lassen und allenfalls zu Sprüngen in die Tiefe locken.

In zahlreichen Prosaminiaturen hat die 1936 in Basel geborene Autorin von ihren Seelenverwandten erzählt. Alle führen sie einen aussichtslosen Kampf um ihr „Recht, lebensuntüchtig zu sein“ (so der Titel einer ihrer Erzählungen). Die in einer lakonisch-präzisen, stark verdichteten Sprache geschriebenen Texte sind selten länger als zwei oder drei Seiten. Seit 1963 erschienen sie zunächst in Schweizer Tageszeitungen, ehe sie nach 1980 vom Luchterhand Verlag in mehreren Sammelbänden veröffentlicht wurden. Über den Status eines Geheimtipps hat es Adelheid Duvanel freilich nie hinausgebracht. An diese zeitlebens gefährdete Autorin, die auf Fotos selbst einen ausgesprochen zerbrechlichen Eindruck macht und sich 1996, betäubt von Medikamenten, in einem Wald einer eiskalten Sommernacht ergab, erinnert nun Peter von Matt mit einem eindrucksvollen Auswahlband.

Adelheid Duvanel liefert gestochen scharfe Momentaufnahmen fremdartiger Innenwelten, Lebenssplitter ausgesetzter Existenzen, die sich in ihrer Eigenart unverstanden fühlen und in surreale Fantasiewelten flüchten. Mehr als drei oder vier dieser Porträts exzentrischer Gestalten auf einmal vermag man vor lauter Trostlosigkeit kaum zu ertragen. In „Ein Fremder“ schneidet sich Gaston seine „zündroten Locken“ ab, damit ihn sein Freund, ein Erfolgsmensch, nicht wiedererkennt, damit es so ist, „als würde er ihn zum ersten Mal sehen“. Der kleine Hermann, der bei seinen Großeltern wohnen muss, weil seine Mutter die Wohnung mit Büchern absolut unbewohnbar gemacht hat, zerknüllt am Ende das Foto, auf dem ihm sein Großvater ein Lächeln abgerungen hat.

Beziehungen aufzubauen ist diesen Menschen unmöglich; die seltenen Gelegenheiten dazu erweisen sich als trügerisch. „Willibald denkt, dass der Mensch sich ein Leben lang bemühe, sich zu erkennen zu geben, und doch von niemandem erkannt würde. Und ein Leben lang strengt er sich an, sich der Einsamkeit und der Menschen zu erwehren, da Einsamkeit und Menschen zerstörerisch sind.“ Andere Figuren wie der Musikkritiker Werner suchen sich unerreichbare Personen als Projektionsflächen für ihre Wünsche. Für eine Konzertpianistin lässt er einen Flügel in den einzigen Raum seiner Sozialwohnung stellen, den er aus Platzmangel als Esstisch benutzen muss, bis er eines Tages in der Zeitung vom Tod der Musikerin liest.

Für Pius ist die Straßenbahn sein „Zufluchtsort“ vor seiner kranken Frau; am Krankenbett verspricht er ihr, sie in Zukunft nicht mehr allein zu lassen. Aber, heißt es lakonisch: „Er wird sein Versprechen nicht halten, kann nicht zulassen, dass Trübsinn sein Herz erfüllt.“ Arthur in „Der Engel“ kann sich seiner heimlichen Liebe nicht nähern, weil ihm dies von einem auf einem Balkon stehenden Gipsengel, der ihm in seiner Fantasie gegenübertritt, verwehrt wird. Im Traum eröffnet ihm der Engel seine Schutzlosigkeit. „Du gleichst einem Apfelkern, der auf einer gefrorenen Schneedecke liegt – ein hungriger Vogel wird dich finden.“ Bilder wie diese, berückend und beängstigend zugleich, machen Duvanels Texte einzigartig. So einzigartig wie Norma, die schön ist „wie ein Vase, die von einer weißen Hand getragen wird und die sich wünscht, fallen gelassen zu werden.“

Adelheid Duvanel: „Beim Hute meiner Mutter“. Erzählungen. Mit einem Nachwort von Peter von Matt. Kollektion Nagel & Kimche, München/Wien 2004, 174 Seiten, 19,90 Euro