Isolierten Stilmitteln bei der Arbeit zusehen

Irgendwas liegt in der Luft: Stuart Hagmans „Strawberry Statement“ („Blutige Erdbeeren“) kommt wieder ins Kino. Der Film aus dem Jahre 1969 erzählt von den kalifornischen Studentenunruhen. Sein Blick ist unpolitisch, aber die vielen halb garen Einfälle stehen prächtig sinnlos in der Gegend herum

von DIEDRICH DIEDERICHSEN

Eine bizarre Trouvaille, dieses Werk von 1969, das jetzt wieder in die Kinos kommt. Ein ebenso süßer wie farbloser kleiner Junge (Bruce Davison) und die erste Liebe, zwischen Campus-Politik und einem reaktionären Ruderclub. Dazu die Straßen von San Francisco, mit ihren dramatischen Höhenunterschieden, die immer wieder die Gelegenheit bieten, dass das, was von der andere Seiten entgegenkommt, zuerst als Silhouette erscheint: bedrohliche Bullen ebenso wie eine metaphorische alte Dame am Stock, die unserem aufbrechenden jungen Manne am anderen Ende des Lebensweges entgegenkommt. Ja, der Kreislauf des Lebens. Eingerahmt ist Stuart Hagmans „Strawberry Statement“ nämlich in Buffy Sainte Maries Version von Joni Mitchells „Circle Game“ – ein Lied, das eigentlich ganz statementhaft klar macht, dass die ewige Wiederkehr die gegenüber jeglicher politischer Umtriebigkeit vorrangige Struktur sei.

Entsprechend lieblos wird mit der Campus-Politik und den Andeutungen einer Entwicklung, die unser kleiner Held gemacht haben soll, umgegangen. Am Anfang, vor seiner „Politisierung“, hängt ein Bob-Kennedy-Poster in seinem Zimmer und später, nach der Politisierung, ist es immer noch Bob Kennedy, dem er etwas zutraut, nur dass „sie“ den ja umgebracht hätten. Plausibel werden die politischen Kämpfe so wenig wie die Liebesgeschichte mit einem ernsthaften, etwas unauffälligen Mädchen (Kim Darby), das eigentlich nur von heutigen, nuancengeschulteren Blicken als Vorläuferin von Chan Marshalls (Cat Power) speziell spröden Starqualitäten erkannt werden könnte.

Zuerst geht es um ein Grundstück, das der Uni gehört, die es den bisherigen Nutzern, der Black Community, wegnehmen will, um es der Armee zur Verfügung zu stellen. Dann wird sogar klar, dass die Uni mit dem Grundstück spekuliert haben soll. Tja, wegen solcher Sachen hat man damals eine Uni besetzt. Und nicht nur das: Eine ganze Kulturrevolution bricht los. Reden werden gehalten, nächtelang diskutiert und Mao-Poster verklebt, alles immer haarscharf an Intellektuellen-Parodie oder der Youthploitation-Lächerlichkeitsgrenze, die später zu „Eis am Stil“ führen sollte – und ohne jeden zwingenden Zusammenhang. Dazwischen wird in hingehauchten Dialögchen die kleine Amourette erzählt.

„68“, so viel wird klar, war schon 69 vor allem eine historisch ungenaue Bouillabaisse aus nicht miteinander zusammenhängenden politischen und Lifestyle-Klischees, und im Hintergrund spielt die Musik: hier vor allem ohne zwingenden kulturellen Grund Crosby, Stills, Nash & Young. Das politisch-philosophische Resümee gibt nach einer durchwachten Nacht Thunderclap Newmans seinerzeitiger Sommerhit „Something in the Air“: Es liegt was in der Luft. Irgendwas.

Man kann aber „Strawberry Statement“ auch ganz anders ansehen. Man kann den vom Kampf um den Park vor der Uni Berkeley abgeschauten Konflikt als bloßen Anlass sehen, um mit größeren Geldern ein bisschen neues Kino auszuprobieren. Hagman ging es um flippige Stadtromantik, experimentelle Großstadtfotografie und „filmisches“ Erzählen. Er liebt Sequenzen, die sich über urbane Zufälligkeiten miteinander verknüpfen: durch Zäune und Gitter strukturierte Bilder, „zufällige“ Spiegelungen, halbhohe Hindernisse, die die Leinwand teilen, und vor allem jene die Architektur durchpflügenden Zooms aus der Totalen in die Nahaufnahme. Am liebsten würde er nur solche Sequenzen fabrizieren und die Geschichte an eine stumme filmische Syntax delegieren, die er vielleicht vom sowjetischen Kino kennt, nur dass der Zoom bei ihm den montierenden Schnitt an Bedeutungen übertrifft.

Doch sein Partner hat noch andere Ambitionen. Drehbuchautor Israel Horowitz war einer der prominentesten kulturrevolutionären Theaterautoren der 60er.Jahre – und Vater des Beastie Boy Ad Rock. Er hat den ganzen Film mit lustigen Straßentheatereffekten und Gags aus hippen Happenings zugepflastert. Bevor wir irgendwas über Campus und Politik erfahren, gibt es die erste Straßentheateraufführung, bei den Kämpfen um die besetzte Uni zoomt der nimmermüde Zoom immer wieder auf Studentenmassen, die sich zu einem Peace-Zeichen ornamentalisiert auf den Boden des Campus niederlassen. Demos und Teach-ins sind durchchoreografiert, als wollten sie’s mit Gewalt ins Nachfolgemusical von Hair schaffen.

Beide, Horowitz und Hagman, sind keine großen Künstler. Von den Autoren gelungenerer zeitgenössischer Filme über 68, von Antonioni bis DeAntonio, unterscheiden sich Hagman/Horowitz vor allem dadurch, dass sie keinen vernünftigen Gedanken über den Zusammenhang zwischen dem (politischen) Gegenstand und seiner künstlerischen Verarbeitung je gedacht haben. Sie wissen nur: Einen Gegenstand muss man irgendwie umsetzen, darstellen, repräsentieren. Und begriffen haben sie in ihrem süßen Opportunismus nur das eine, dass es nämlich offensichtlich jetzt andere Repräsentationsformen gibt. Mit leichtfüßigem Dauerlaufen und Louis Malle und Popmusik.

Dabei ist es von heute aus ein Hochgenuss, diesen isolierten Stilmitteln bei der Arbeit zuzusehen. Ein undurchdachter, aber hübscher und angenehm sinnloser Effekt jagt den nächsten. Das Unvermögen zur Integration der Teile verhindert auch die Instrumentalisierung der geklauten oder halb verdauten Ideen: Sie stehen plötzlich prächtig sinnlos in der Gegend rum und freuen sich des Daseins. Ein beliebiger Bilderbogen aus lauter brillanten, aber solitären Shots.

Vielleicht hat das auch die Jury in Cannes schon 1970 sehen können, als sie diesem seltsamen Streifen den Jurypreis verlieh. Vielleicht hat sie aber auch das Finale rumgekriegt, das man ohne Abstriche fulminant nennen kann. Für die fast zehnminütige brutale Räumung der Uni durch die Nationalgarde haben die theatralen Ambitionen von Horowitz und die filmkünstlerischen Hagmans sich zu einer Kraft vereint, die nun auch inhaltlich nicht mehr überfordert war. Widerliche Bullen und friedliche Studenten: zwei Ballettformationen, angreifende Armee und zu Kreisen choreografierte Opfer treffen aufeinander und zerstieben eindrucksvoll, länglich und intensiv in einer opulenten Orgie des Unrechts und der gerechtfertigten Rebellion. Horowitz ist den aktuellen Themen treu geblieben. Nur wenige Wochen nach dem 11. September 2001 hatte er das erste Stück über die gefallenen Twin Towers fertig gehabt.

„Strawberry Statement – Blutige Erdbeeren“, Regie: Stuart Hagman. Mit Kim Darby, Bruce Davison, Danny Goldman, Israel Horowitz u. a. USA 1969, 109 Minuten