: Skulpturen bunt ins Blatt gemeißelt
Der Kubismus ist eine Sprache der Kunst und keine Epoche: In einer beredten Ausstellung zeigt das Sprengel Museum Hannover gewürfelte Welten
Aus Hannover Benno Schirrmeister
Für den, der wissen will, wie die Geschichte weiter ging, ist der Keller eine zwingende Station: In der ständigen Sammlung weitet sich der Blick, er findet kubistisches Vokabular in den späten Picassos, sieht Fernand Léger mit anderen Augen. Und dann die vielen Arbeiten der regionalen Avantgarde! Hans Bellings „Triad /Dreiklang“ von 1919 etwa – die hätte bestens neben die Skulpturen der Kubismus-Ausstellung gepasst, zwischen Henri Laurens zwei Jahre später aus Stein gehauene „Femme nue“ und Alexander Archipenkos frühe Bronze „Tête“ von 1913.
Ein Link hätte wirklich nicht geschadet. Nicht, dass sie in der Schau unterrepräsentiert wären, die Hannoveraner. Kurt Schwitters ist da, Friedrich Vordemberge-Gildewart auch, und selbstverständlich fehlt El Lissitzky nicht. Im Keller aber lässt sich erfahren, wie dicht dran die Stadt einst war an den bebenden-lebenden Kunstzentren Europas, wie hochrangig, wie breit auch die hiesige Kunstproduktion, wie früh sie teilhatte an dem künstlerischen Aufbruch Europas.
Genau genommen besteht der in einem Kunstgriff, einem Kniff, man mag’s auch eine Absage nennen: Nach 500 Jahren trompe l’oeil wird die Illusion der Räumlichkeit getilgt, das Kontinuum aufgegeben. Die Perspektive wird aber nicht einfach abgeschafft – sie wird in die Fläche übersetzt. Quadrate, Trapeze, Kurven, schräg gegeneinander gestellte, einander unterbrechende geometrische Figuren bilden keine Räume ab. Sie schaffen Räume: „Der Maler kann“, schreibt Guillaume Appolinaire 1913, „gewissermaßen kubisch malen.“ Das Bild behauptet eine eigene Wirklichkeit: Der Pinsel ist endlich zumMeißel geworden. Bunte Skulpturen treibt er ins Blatt.
„Wir sind zufrieden mit dem Besuch“, sagt der Kurator Norbert Nobis. Samstags ist es allerdings erschreckend leer. Kein Schlangestehen, und vor jedem Werk allein. „25.000 zahlende Besucher“ seien bisher gekommen. „Das ist gut.“ Und doch eine Schande. Denn üppiger als das Sprengel Museum hat bislang noch niemand gezeigt, dass der Kubismus eine gesamteuropäische Massenbewegung war. Der hispano-französische Kubismus mit Sitz in Paris– Picasso, Gris, Delaunay und Braque. Die Norddeutschen: siehe oben. Expressionisten mit stark kubistischem Zungenschlag: August Macke, Franz Marc, Otto Mueller. Und vor allem, das zweite kubistische Zentrum neben Paris, Moskau. Die Tretjakow Galerie kooperiert mit Hannover. Im Herbst wird die Ausstellung dort zu sehen sein, und knapp die Hälfte der Exponate stammt aus Moskau: Gontscharowa, Lentulow, Kudrjaschew …
Das sind doch völlig unbekannte Namen! Tjaha, wird ja auch in der westlichen Kunstgeschichtsschreibung gerne übersehen, wie wirkungsmächtig der Kubismus schon im Zarenreich sich entfaltete. „Die Geschichte, die wir erzählen wollten“, so Nobis, „ist die Entwicklung über den analytischen zum synthetischen Kubismus bis zum Suprematismus“. Eine stringente Linie von der Welt aus vielen kleinen Kuben, über die sich Henri Mattisse mokierte, bis zu Kasimir Malewitschs schwarzem Quadrat also. Das hängt folgerichtig auch da, wenig weiter ein Mondrian von 1927 – frappierend schlüssig und gerade führt der Weg von expressiven Stilleben in die vollkommene Gegenstandslosigkeit.
Zeitungspapier, immer wieder Zeitungspapier – hinein geklebt oder naturalistisch und eins zu eins abgemalt, dann wieder abstrahiert, als Chiffre kommt es noch in Picassos Stilleben von 1918 vor: Rotbraun die eckige Gitarre, eine stehende Flasche, dahinter, leicht geschrägt, ein weißes Rechteck mit Linien: Es ist kaum ein Zufall, dass die kubistische Malweise, gerade auf Schrift zurückgreift: Die eigene Welt zu kreiern, einen titanisch-schöpferischen Anspruch zu erheben, das war bis dato eine Spezialität der Literatur. Dass es gerade Zeitungspapier ist, auf dem doch der Text Wirklichkeit bloß abbilden darf und nicht schaffen? Vielleicht ist das eine kleine, nickelige Revanche, ein Seitenhieb auf die Poeten. Sicher aber auch eine Beglaubigung der eigenen Wirklichkeit.
„Eines der Ergebnisse unserer Ausstellung ist, dass es den Kubismus nicht gegeben hat.“ Norbert Nobis sagt das, ohne den Artikel zu betonen: Es geht nicht nur darum, dass es natürlich sehr unterschiedliche Ausprägungen gegeben hat, und also der Plural viel angebrachter wäre. Wichtiger ist, dass sich, anders als bei Dada-, Expression- und Surrealismus nie eine Front der Kampfkubisten gebildet hat, und sich der Anfang noch recht zuverlässig, das Ende aber keineswegs datieren lässt. Die Revolution fand trotzdem statt: In der Tiefenstruktur, nicht in den Themen. Der beste Beweis sind etwa Natalja Gontscharowas frühe Frauen-Akte, die sich allmählich nur von der Perspektive verabschieden. Oder aber die Stilleben, die immer wieder ein Grundmodell variieren: Gitarre, Zeitung, Flasche, Gitarre, Zeitung Flasche; Kompottschale, Notenblatt, Mandoline. Mimetische Übungen sind das. Mit denen erschließt man sich am besten eine neue Grammatik. Der Kubismus? Das wäre eine bloße Mode gewesen. Das Kubistische aber war die neue Sprache der Malerei.
Sprengel Museum, Hannover: Kubismus. Ein künstlerischer Aufbruch in Europa 1906-1926. Bis 10. August
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen