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Archiv-Artikel

„Ich bin geflogen“

Bei den Special Olympics in Hamburg, den nationalen Titelkämpfen geistig behinderter Menschen, war der Wettkampfgedanke Nebensache. Für die 3.500 AthletInnen ist Dabeisein (fast) alles: Medaillen gibts für alle

von CLAUDIA HANGEN

Tobias ist aufgeregt. Er schnippt mit den Fingern, bis endlich das Startzeichen kommt. Zusammen mit acht Kollegen ist Tobias in Startgruppe eins, der Gruppe mit den besten Springern, die über vier Meter springen. Sein Trainer und Betreuer Ralf Nauß spornt ihn an. Tobias läuft los, wird immer schneller. Die Arme rudern in der Luft, die Beine sind nach vorne lang ausgestreckt. Er stürzt in den Sand und fällt zur Seite. Ein kurzes Raunen geht durch die Zuschauerreihe. „Vier Meter 78“, misst der Kampfrichter. „Jaaaaa!“: Tobias reißt die Arme hoch. In der Qualifikationsvorrunde im Weitsprung bei den Special Olympics in Hamburg, hat er sich Platz drei erkämpft. „ Es war super“, ruft er, „ich bin geflogen!“

Die Anreise, neun lange Stunden im Bus, hat sich gelohnt für ihn und seine fünf SportsfreundInnen aus den Ludwigshafener Werkstätten. „Seit April haben wir jeden Mittwoch um 8 Uhr hart trainiert“, erklärt Walter (43), der, wenn er nicht gerade trainiert, Staubsaugerfilter verpackt. „Angefangen haben wir mit dem 100-Meter-Lauf, dann Staffellauf und Weitsprung. Aber auch mit Bogenschießen, Fußball, Klettern und Yoga haben wir uns fit gehalten“, fügt er hinzu.

Tobias, Walter und die anderen sind keine AthletInnen, wie man sie aus den üblichen Sportübertragungen im Fernsehen kennt. Sie sind geistig behindert, und die Special Olympics sind ihre nationalen Spiele. Zusammen mit weiteren 800 von insgesamt 3.500 SportlerInnen, die bei den fünftägigen Wettkämpfen mitmachen, sind sie in den 89 Großzelten der Zeltstadt im Hamburger Stadtteil Alsterdorf untergebracht. Was nicht alle begeistert. „Dort ist es kalt und feucht, wir schlafen auf Feldbetten“, sagt Weitspringer Marco.

Der Tagesablauf für die SportlerInnen an den fünf Wettkampftagen ist streng geregelt: Frühstück um sieben Uhr, danach steigen sie in die U-Bahn zur Sportstätte. Um acht Uhr ist TrainerInnenbriefing. Dann werden die SportlerInnen in Startgruppen für Fußball, Tennis, Beachvolleyball, Radfahren, Segeln und Rudern eingeteilt. Insgesamt sind es 17 Disziplinen, die meisten werden im Stadtpark ausgetragen. Dabei messen sich die Stärkeren in einer Gruppe, die Schwächeren in einer anderen.

Für den reibungslosen Ablauf der Wettkämpfe sorgen rund 1.000 freiwillige HelferInnen. Gymnasial- und VerwaltungsschülerInnen aus der 9. bis zur 12. Klasse begleiten die Startgruppen zu den Wettkampfstätten, helfen den KampfrichterInnen beim Abmessen, protokollieren die Zeiten oder richten die Abschlussfeier mit aus. Maria Vick (19) von der Verwaltungsschule Hamburg betreut die SportlerInnen beim Kugelstoßen. „Ich darf zum ersten Mal bei den Special Olympics mithelfen“, sagt sie. „Es fasziniert mich zu beobachten, wie die SportlerInnen mit ihrer geistigen Behinderung in den einzelnen Disziplinen umgehen. Manchmal sind sie allerdings auch hyperaktiv. Das fordert von uns viel Aufmerksamkeit und eine hohe Verantwortungsbereitschaft.“

Bei den Wettkämpfen in Hamburg wird erstmals eine „körperliche Rundumbetreuung“ für die SportlerInnen angeboten. „Mehr als 30 Prozent der AthletInnen haben Sehprobleme. Aber auch bei Fuß- und Zahnproblemen können wir erste Hilfe leisten“, sagt Rueck aus Almelo in Holland, der die medizinischen HelferInnen im Stadtpark beaufsichtigt.

Die Disziplinen bei den Special Olympics sind genauso wie bei den großen Spielen in Athen. Auch hier ist der 100-Meter-Lauf eines der Highlights: Rund 500 ZuschauerInnen finden sich vor der 100 m-Bahn ein und spornen durch Pfiffe, Klatschen und Rufen die SportlerInnen an. Über Lautsprecher werden die Finalläufe eins bis zehn der Männer angekündigt. Die Läufer stehen in den Startblöcken. Einige Athleten rennen nochmals kurz die Bahnstrecke ab und machen dabei Arm- und Beinübungen. Dann der Startschuss. Schon bald geht Daniel Kulling (26) in Führung. Und gibt sie nicht mehr ab. Seine bisherige Sprintbestzeit liegt bei 13,4 Sekunden, diesmal liegt er deutlich drunter. „Ich bin mitgefahren, weil ich siegen will. Der Lauf ist mein Leben, das macht mir so viel Spaß. Doch ob ich gewinne oder verliere, ist nicht so wichtig, wichtiger ist es, dabei zu sein.“ Seine zwei Trainerinnen von den Werkstätten Mölln-Hagenow empfangen ihn am Ziel. Daniel ist außer Atem, doch stolz. Heute war es nicht nur ein Sieg über seine bisherige Bestzeit, sondern auch ein Sieg über seine Krankheit, die Epilepsie. „Wenn ich nicht von meinen Trainerinnen betreut worden wäre, hätte ich wegen meiner Behinderung keine Chance gehabt, meine Geschwindigkeit zu erhöhen. Aber jetzt habe ich beides im Griff“, sagt er.

Die Special Olympics haben eigentlich alles, was gute Olympische Spiele ausmacht: Das Entzünden der Flamme zur Eröffnung ebenso wie Siegerehrungen. Die finden auf der Jahnkampfbahn hinter dem Leichtathletengelände statt. Auf der Tribüne erhalten die ersten Drei Gold, Silber und Bronze und die anderen Fünf eine Kupfermedaille. Und viel Applaus – das gibt den Grundgedanken der Special Olympics wieder: Alle, die teilnehmen, sind irgendwie Gewinner und haben eine Medaille verdient. Dann wird der Eid der Special Olympics gesprochen, und anschließend stimmen alle ein und singen das Lied der Spiele: „Let me win. But if I cannot win, let me be brave in the attempt.“ Lasst mich gewinnen, und wenn ich nicht gewinnen kann, lasst mich mein Bestes geben.

Die AthletInnen werden für ihren Mut belohnt, bei den Wettkämpfen über ihre körperlichen Grenzen hinauszugehen, aber nicht nur das. „Wir haben den olympischen Geist in unserem Team, wir wollen das Beste geben, und wenn wir das nicht können, so haben wir alle zumindest eine Menge Spaß gehabt“, sagt Marco nach dem 100 m-Lauf der Männer, bei dem er in seiner Gruppe Bronze geholt hat.

Der sportliche Ehrgeiz, um eine möglichst gute Leistung zu bringen, ist bei allem Miteinander hoch, bestätigt auch die Kampfrichterin Uschi Timm vom Hamburger Leichtathletikverband. „Die SportlerInnen sind mit Begeisterung dabei. Obwohl der Wettkampf bereits beendet ist, fragen sie, ob sie nochmals zum Start antreten dürfen.“

Dabei entwickele, so Timm, jedeR SportlerIn eine eigene Sprungtechnik. Einige vollziehen wegen Gleichgewichtsstörungen einen Dreisprung auf einem Bein, der im Lauf durch das andere Bein abgefedert wird, Andere strecken beim Springen die Arme aus. „Das ist einfach toll, mitanzusehen“, sagt Timm.

Die Special Olympics sind nicht nur ein besonderes Sportereignis, sondern auch ein Fest der Begegnung, der Verständigung und des fairen Miteinanderseins. Und auf jeden Fall blieben, als gestern nach den Wettkampftagen die olympische Flamme erlosch, die Erinnerung. Und die Hoffnung, das nächste Mal wieder dabei zu sein.