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Archiv-Artikel

Die Wiedererfindung der Glühbirne

Durch Fiktionalisierungen seines eigenen Lebens reihte sich Henry Ford in den Mythos der Industriegeschichte ein. Mit Greenfield Village schuf er ein Dorf, das seine Auffassung von Geschichte verkörpert

VON JENS KABISCH

Geschichte ist ganz und gar schwachsinnig. Sie meint Tradition. Wir wollen keine Tradition. Was wir wollen, ist in der Gegenwart leben, und die einzige Geschichte, die irgendeinen Wert hat, ist die Geschichte, die wir heute machen.

Mit diesen Worten verschaffte Henry Ford 1916 seiner Empörung über die Geschehnisse in Europa Ausdruck. Verabscheuungswürdig fand er die Gräueltaten des Ersten Weltkriegs. Doch sah er sie als die logische Konsequenz der Geschichtsbesessenheit der Europäer mit ihrem übertriebenen Sammelwahn von Daten über Kriege und Schandtaten der Menschheit an.

Solch antihistorische Ressentiments wie die Fords lassen sich bis zu den Ursprüngen der US-amerikanischen Kultur zurückverfolgen. Schließlich waren die Puritaner aus Europa geflohen, um sich von der vermeintlichen Dekadenz ihrer alten Heimat zu trennen, und in der Neuen – wie sie es sahen, geschichtslosen – Welt ihre christlichen Utopien zu errichten. Gegenwartsbesessenheit und die pragmatische Vorstellung, die Geschichte selbst verändern zu können, finden sich an vielen Stellen der amerikanischen Geistesgeschichte wieder. Man denke an Emersons „Eine-Generationen-These“ oder die Revisionismusdebatte des Feminismus. Kurzum, Fords Statement wäre angesichts allgemeiner antihistorischer Tendenzen nicht weiter erwähnenswert, hätte Ford nicht selbst ein Museum gegründet. Eines, das nach seinen Worten die „wahre“ Geschichte der Vereinigten Staaten darstellen sollte.

Die Idee zu dem Museum steht in unmittelbarem Zusammenhang zum oben Zitierten. 1919 stilisierte die Chicago Tribune in einem Rechtsstreit das Schwachsinn-Zitat zum medienwirksamen Beweis dafür, dass Ford, der erbitterte Gegner der Interventionen in Mexiko und in Europa, ein unpatriotischer Idealist sei. Den öffentlichen Demütigungen ausgesetzt, beschloss der Autohersteller, ein Museum zu gründen. Gegenüber seinem Privatsekretär erklärte er: „Wissen Sie, ich werde den Menschen eine Idee der wirklichen Geschichte geben. Ich werde ein Museum gründen. Wir werden den Leuten zeigen, was tatsächlich passiert ist.“

Heute steht das Henry Ford Museum in unmittelbarer Nähe der Produktionsstätten der Ford Motor Company in Dearborn, Michigan. Zur Zeit der Entstehung des Museums war Dearborn noch ein Dorf, heute ist es ein Teil der Metropole Detroit, die durch Ford zum Zentrum der Automobilindustrie wurde.

1929 eröffnet, ist das Museum eines der ersten Heimstätten nationaler US- amerikanischer Identität. Seine Bedeutung liegt aber weniger in der Qualität der Sammlung, die mancher mit der des Science Museum in London oder des Deutschen Museums in München vergleicht. Der Wert ist vielmehr in Fords pragmatischem, ja proaktivem Impetus zu suchen. Er bemühte sich nämlich nie, eine verifizierbare Rekonstruktion der Vergangenheit zu liefern. Vielmehr kaufte er wahllos Relikte der amerikanischen Vergangenheit („alles, was jemals ein Amerikaner in den Händen gehalten hatte“), um aus diesem Sammelsurium seine Version der Vergangenheit entstehen zu lassen. Ein Bild, das er als zukunftsweisendes Modell für die Entwicklung der USA verstanden wissen wollte.

Dieses tritt besonders innerhalb des Museumsdorfs Greenfield Village zutage, einem etwa hundert Hektar großen Teil des Museums, das heute um die achtzig Häuser unterschiedlicher Zeitabschnitte der Geschichte der Vereinigten Staaten zur Schau stellt. Neben der Akquisition von Alltagsgegenständen und „Meilensteinen“ der industriellen Revolution hatte Ford Anfang der Zwanzigerjahre auch damit begonnen, Häuser aufzukaufen. Zuerst einige in der näheren Umgebung, die er vor dem Verfall schützen wollte, wie zum Beispiel eines Schulhaus, in dem er selbst lesen und schreiben gelernt hatte, oder sein eigenes Elternhauses, das kurz vor dem Abriss stand. Später erwarb er dann Gebäude nicht nur persönlicher, sondern allgemein historischer Signifikanz. Unter anderem kaufte er Häuser bedeutender Persönlichkeiten wie Abraham Lincoln, Harvey Firestone oder der heute nicht mehr so bekannten Bildungsväter der Nation, Noah Webster und William Holmes McGuffey. Die Häuser wurden aus allen Teilen der USA herangeschafft. Ford ließ sie vor Ort demontieren, um sie dann originalgetreu in Dearborn wieder aufzubauen. Waren nur noch einige wenige Balken eines verrotteten Holzhauses zu finden, wurde aus diesen Resten ein neues Haus gebaut, das man kurzerhand zum Original erklärte.

Fords Wille zur Perfektion bei dieser Arbeit veranschaulicht eine Episode der Museumsgeschichte. Thomas Edison erklärte angesichts der Rekonstruktion von Menlo Park (dem Gebäudekomplex, in dem er 1879 die Glühbirne erfand und das heute zu den Hauptattraktionen des Dorfes zählt), es stimme zu 99 Prozent mit dem Original überein. „Nur war es bei uns nie so sauber.“

Die Häuser, zu Beginn eher wahllos vor dem Museumsgebäude abgestellt, wurden nach und nach in Form eines Dorfes arrangiert. Grundgedanke dabei war es, einen Common Ground im Stile eine neuenglischen Gründerkommune zu errichten. Von diesem (etwa fußballfeldgroßen) Dorfplatz aus sollte sich das Dorf entwickeln. So lagerte man dem Grün die üblichen Einrichtungen einer puritanischen Kommune an, die Ford für das Funktionieren einer Gesellschaft für wichtig hielt. Eine Kirche, eine Schule und einen Gerichtssaal.

Indessen nicht Einrichtungen irgendwelcher Art. Zollt die Martha & Mary Chapel noch seiner Frau und seiner Schwiegermutter Tribut, wird spätestens mit dem Gerichtssaal die übergeordnete, nationale Bedeutung des Projekts als Ort einer die Nation verbindenden Mythenbildung ersichtlich. Denn in diesem Logan Courthouse hatte kein Geringerer als Abraham Lincoln – „Retter der Union“ – seine ersten Schritte als Anwalt gewagt.

Für den heutigen Betrachter ist es allerdings weniger diese Verknüpfung von gesellschaftlichen Institutionen und historischen Figuren als vielmehr die Kreation einzelner historischer Bezirke, die den Charakter des Dorfes prägt. Neben dem Common Ground gibt es unter anderem einen landwirtschaftlichen Distrikt mit einer Farm aus dem 18. Jahrhundert, in dem die Besucher alte Anbauverfahren und „zurückgezüchtete“ Tiere kennen lernen können. Tiere, die man später in den Tavernen des Dorfs auch verzehren kann. Ein Transportbereich bietet die Möglichkeit, mit alten Tin Lizzys, jenen zum Symbol des frühen Massenkonsums stilisierten Fahrzeugen, eine Spritztour durch das Dorf zu unternehmen oder mit historischen Zügen um das Museum zu reisen.

All diese Bemühungen wollen die Vergangenheit zum Leben erwecken. So werden im Handwerkszentrum „ausgestorbene“ Industrieverfahren weiterbetrieben, die nicht zuletzt erst durch Fords eigene Fabrikationsmethoden obsolet geworden sind. Darsteller in historischen Kostümen mimen ein Leben der Vergangenheit und versuchen, Geschichte nicht als „totes“ Wissen, sondern körperlich erfahrbar zugänglich zu machen. Der Besucher kann sie bei ihrer täglichen Arbeit beobachten, wird von ihnen in Gespräche verwickelt und kann sich zum Teil selbst an den alten Handwerksverfahren versuchen.

Übrigens folgt man auch in allen Neuerungen ganz dem Vorbild Fords. Dieser verdingte schon Angestellte und Verwandte der Berühmtheiten, die er gleichsam mit den Häusern kaufte, damit sie seine Vision Amerikas lebten, um – ganz in der Tradition der calvinistischen Bibelexegese – die Vergangenheit „buchstäblich“ auferstehen zu lassen. Ein durch und durch magisches Verhältnis zur Geschichte, das sich schon bei der Eröffnung von Greenfield Village zeigte. Damals bat Ford Edison, die Glühbirne noch einmal zu erfinden.

Der Hintergrund von Fords Konstruktion der Geschichte wird in einem als „Erfindung“ bezeichneten Bereich besonders deutlich. Hier stehen neben den Werkstätten der Gebrüder Wright und anderer Erfinder hauptsächlich Fabriken und Laboratorien Thomas Edisons. Neben Menlo Park auch die Edison Illuminating Company, in der Ford selbst einige Jahre lang arbeitete. Anknüpfend an seine eigene Vergangenheit, ließ es sich Ford hier nicht nehmen, sein Leben in Bezug zu dem großer amerikanischer Erfinder zu setzen.

Ford nämlich war kein Erfinder im eigentlichen Sinne. Für sein erstes Automobil kopierte er den Bauplan aus einem DIY-Heft. Erst mit der Fiktionalisierung seines eigenen Lebens reiht er sich in diesen Mythos der Industriegeschichte ein, dem er nur zu gerne angehört hätte. Und zumindest die Kommentare der Besucher scheinen ihm in diesem Punkt Recht gegeben zu haben: „Ich habe gar nicht gewusst, dass Edison, Ford und die Gebrüder Wright alle in derselben Straße gewohnt haben.“

Doch trotz der Anschuldigungen, Greenfield Village sei nur der geschmäcklerische Auswuchs eines exzentrischen Entrepreneurs, ist die Anlage des Dorfs nur scheinbar unbeabsichtigt. Die hier umgesetzte Anleihe bei der Gesellschaftsstruktur der Puritaner steht Pate für den Umgang mit der Geschichte. Sie liefert einen übergeordneten Handlungsstrang, an Hand dessen sich nicht nur das Dorf organisiert, sondern der die Dynamik, die „Geschichte zu machen“, selbst erkennen lässt. Die Siedlungen der Puritaner nämlich waren, anders als die Niederlassungen der Kolonisten im Süden, waren geplant. Sie entstanden nicht erst nach und nach. Ihnen lag ein sozialer Plan zugrunde, der Gerechtigkeit predigte, sich aber auch auf Exklusivität und totale Unterwerfung stützte.

Die Puritaner verstanden ihre Siedlungspolitik dabei nicht als sachdienlichste Lösung angesichts der Unwägbarkeiten eines neuen Kontinents. Sie verbanden einen göttlichen (überhistorischen) Anspruch mit ihrem Gesellschaftsmodell. Ihre Siedlungen waren als „lebendige“ Modelle einer perfekten Gesellschaft gedacht, die eine christliche Utopie auf Erden verwirklichen und als Gegenbild der dekadenten Welt dienen sollten.

Hinter dem Muster der neuenglischen Kommune verbirgt sich also nichts anderes als der Ausgang einer Geschichts- und Gesellschaftsvision, in deren Tradition auch Greenfield Village gesehen werden muss. Dem Beispiel puritanischer Pädagogik folgend, in der generationenübergreifend Kinder von Erwachsenen und Erwachsene von Kindern lernen sollten (Ford selbst sah und nutzte das Dorf als überdimensionales Klassenzimmer), sollte Greenfield Village zum Modell für die USA werden. So liegt die Bedeutung des oben zitierten Statements ganz in seinem Anspruch. Im Willen Fords, die Vergangenheit zum Werkzeug der Zukunft zu machen.

So einfach, ja naiv dieses Geschichtsverständnis auch anmuten mag, Greenfield Village hatte durchaus weit reichenden Einfluss. Es prägte mit seiner Animation der Vergangenheit eine Kultur der Museumspraxis, die sich in einer ganzen Armada von Freilichtmuseen und Themenparks wiederfinden lässt. Besonders aber die Restauration des Dorflebens erfährt heute eine Renaissance. So bedient sich etwa die Walt Disney Company mit ihren verschiedenen Sozialprojekten dieses Modells einer intakten Kommune. Eines Gesellschaftsmodells, das in vielen Privat Communities heute zum Exportschlager der USA zu werden droht.

JENS KABISCH, Jahrgang 1973, arbeitet als Künstler und Autor über Konstruktionen amerikanischer Identität. Der Text entstand im Rahmen eines Stipendiums am Henry Ford Museum. Neben Projekten in München und London promotet er den Stuntman Evil Knievel ( www.perfektewelt.com )