Monumentale Bescheidenheit

Eine Retrospektive im Mauritshuis in Den Haag zeigt neunzehn Gemälde, drei Miniaturen und sechzehn Zeichnungen von Hans Holbein dem Jüngeren. Der 1497 oder 1498 in Augsburg geborene Hofmaler des englischen Königs war einer der Ersten, der echte Menschen aus Fleisch und Blut darstellte

Die Physiognomien der Porträtierten sind bis ins kleinste Detail wiedergegeben

von STEFAN KOLDEHOFF

Ein Ereignis ist diese Ausstellung allemal, schon jetzt. Und ein bedeutendes noch dazu, denn der Künstler ist ein bedeutender, sein Werk überschaubar und so alt, dass Besitzer seine Werke nicht gern hergeben. Hans Holbein der Jüngere ist außerhalb von Basel und London selten zu sehen, und schon deshalb werden sich auch diesmal wieder lange Schlangen vor dem hässlichen weißen Zeltdachpavillon bilden, den das Mauritshuis auf schwimmenden Pontons vor seinem Haupteingang gesetzt hat, um der erwarteten Besuchermassen Herr zu werden. Sich an eine Holbein-Retrospektive heranzuwagen, setzt viel Optimismus und diplomatisches Geschick voraus: Die Holztafeln, auf die er seine Bilder malte, halten keine großen Klimaschwankungen aus; die meisten erhaltenen Arbeiten gehören bis heute der britischen Königsfamilie und schmücken die Wände von Windsor Castle.

Dass er über beide Eigenschaften verfügt, hat Frederic J. Duparc bereits mehrfach unter Beweis gestellt. Als er 1991 die Leitung des Mauritshuis in Den Haag übernahm, begann er schon bald damit, seine Ausstellungspolitik auf die großen Namen der Alten Meister zu konzentrieren. 1996 zeigte Duparc eine epochale Vermeer-Ausstellung, wenige Jahre später Rembrandts Selbstbildnisse – nun steht Holbein auf dem Programm. Nicht weniger als neunzehn Gemälde, drei Miniaturen und sechzehn Zeichnungen sind nach Den Haag gereist, neun Jahre dauerten die Vorbereitungen, für die Bilderschau, die sich formal bemüht, die wichtigsten Schaffensstationen im Leben Holbeins nachzuzeichnen. 1497 oder 1498 in Augsburg geboren, lässt sich Holbein zunächst vom Vater, später dann in Basel ausbilden. Seine Bilder unterscheiden sich schon früh von jener mittelalterlichen Malerei, in der der Mensch bestenfalls als zweidimensional-flach dargestelltes Rollenbild im christlichen Weltgefüge vorkommen durfte: Holbein zählte neben einigen seiner Zeitgenossen zu den ersten Malern, die Menschen aus Fleisch und Blut wiedergaben: vernunftbegabte Wesen, die eigenverantwortlich handeln. Der Humanist Erasmus von Rotterdam lässt sich dort 1523 von ihm porträtieren; eins der drei entstandenen Gemälde schickt er an William Warham, den Erzbischof von Canterbury. Als der Maler vier Jahre später selbst nach England übergesiedelt ist, lässt sich der hohe Geistliche aus Ehrfurcht vor Erasmus von Holbein in nahezu identischer Pose darstellen. Zu Holbeins Kunden zählt auch Thomas Morus. Einmal nur zieht es Holbein 1529 kurz in die Schweiz zurück. In Basel wird er Zeuge des reformatorischen Bildersturms. Der Maler, der zuvor mit der Reformation sympathisiert hatte, entschließt sich zur Rückkehr auf die Insel.

Neben den deutschen Kaufleuten in London, die sich im „Steelyard“ zusammengeschlossen hatten, zählen bald auch Mitglieder der Hofgesellschaft zu seinen Auftraggebern. Fast immer bereitet eine Zeichnung das oft aus dem Gedächtnis gearbeitete Gemälde vor. 1536 ernennt Heinrich VIII. Holbein zum Hofmaler. Zahlreiche Bilder von hoher Qualität deuten darauf hin, dass er in seinem Atelier auch Schüler beschäftigen durfte. Nach dem Tod seiner dritten Frau Jane Seymour beauftragte ihn der Regent damit, in Europa mögliche Heiratskandidatinnen zu malen. Tatsächlich verliebt sich Heinrich VIII. in Holbeins Porträt der Anna von Kleve, heiratet sie 1540, lässt aber wegen der Diskrepanz zwischen Bildnis und Original schon nach wenigen Wochen die Ehe annullieren. Holbein erhält danach kaum mehr Aufträge; im Oktober 1543 stirbt er in London.

Frederic J. Duparc ist das Kunststück gelungen, allein 19 Leihgaben von der britischen Queen zu erhalten und Museen wie den Louvre, die National Gallery of Art in Washington oder das Metropolitan Museum of Art in New York dazu zu überreden, sich für drei Monate von ihren Werken zu trennen. Der Bilderparcours im Obergeschoss des Mauritshuis ist deshalb durchaus imposant ausgefallen. Erasmus von Rotterdam teilt sich den Raum mit der berühmten „Darmstädter Madonna“, die als nordisches Pendant zu Raffaels „Sixtinischer Madonna“ gelten kann und um die sich zurzeit Museen in Darmstadt und Frankfurt zanken. In Den Haag hängt sie höher als im Darmstädter Schlossmuseum, ist vernünftig beleuchtet und kommt auf diese Weise deutlich besser zur Geltung. Das hervorragend erhaltene Bildnis einer unbekannten „Dame mit Eichhörnchen und Star“ zeigt Holbeins Meisterschaft, nicht allein die Physiognomie der von ihm Porträtierten bis ins kleinste Detail wiederzugeben, sondern auf diese Weise auch ihr Wesen festzuhalten.

Trotzdem bleibt nach einem Rundgang durch die Ausstellung – auch nach der Lektüre des hervorragenden Kataloges der deutschen Kunsthistoriker Stephanie Buck und Jochen Sander – ein zwiespältiger Eindruck zurück. Zu viele wichtige Werke fehlen, als dass die Den Haager Bilderschau tatsächlich den Anspruch erheben könnte, eine Holbein-Retrospektive zu sein. Um das berühmte Porträt Heinrichs VIII. etwa, das dem Thyssen-Museum in Madrid gehört, kämpfte Ausstellungskurator Peter van der Ploeg vergeblich: „Man hat uns zwei Jahre lang erzählt, man denke noch immer über unsere Leihanfrage nach, bevor schließlich die Abasage kam.“ Die National Gallery in London wollte sich nicht vom berühmten Doppelbildnis „Die Botschafter“, die New Yorker Frick Collection, die niemals Werke aus der eigenen Sammlung auf Reisen schickt, nicht von den Porträts von Thomas Morus und Thomas Cromwell trennen. Aus den Uffizien in Florenz fehlt das stolze Selbstbildnis, das Hans Holbein um 1542 in farbigen Kreiden und Feder von sich zeichnete, aus dem Louvre das Porträt des Erzbischofs von Canterbury, William Warham, der – wie die meisten Holbein-Porträts – trotz eher bescheidener Tafelgröße beinahe monumental wirkt. Besonders enttäuschend ist neben dem Fehlen der meisten Bilder aus dem Heiratskandidatinnenkatalog Heinrichs VIII., dass in Den Haag das anrührende Familienportät fehlt, das Hans Holbein um 1520 von seiner Frau Elsbeth Binzenstock und den beiden Kindern Philipp und Katharina malte. Das Basler Kunstmuseum, das neben diesem gut ein Dutzend weitere Holbein-Gemälde in seinem Besitz hat, ließ gerade einmal zwei davon nach Holland reisen. Gerade dieses Gruppenbildnis aber, das ikonografisch nicht weniger als eine bürgerliche Madonnendarstellung ist, hätte wie keine zweite Tafel Holbeins emanzipatorische Leistung als Propagandist von Humanismus und Renaissance im Norden Europas zeigen können.

Bis 16. November 2003, Katalog (Belser Verlag), 39,90 €