Überlebenshilfe Glamour

Lippenstifte, Seidenhöschen und Fernseher als Nothilfe für Krisengebiete – solche wie in Grosny, Sarajevo oder Belém? Der Gedanke erscheint auf den ersten Blick absurd, ja zynisch. Doch ganz so abwegig ist er nicht

von GESINE KULCKE

Angefangen hat es mit dem Mann, der für das Technische Hilfswerk arbeitet. Der erzählte doch allen Ernstes, er habe Vanessa Redgrave im Krieg kennen gelernt. Die und noch ein paar andere Schauspieler. Brennende Häuser, weinende Flüchtlinge, hungrige Kinder auf dem Balkan – und mittendrin die Redgrave. Sie war als Unicef-Botschafterin dort und hat Theaterworkshops organisiert.

Immerhin: Redgrave ist seit langem für ihr linkes politisches Engagement bekannt, aber wären Decken nicht sinnvoller gewesen, frage ich mich – bis ich den Essay „Waiting for Godot in Sarajevo“ entdecke. Susan Sontag beschreibt darin, wie und warum auch sie im Krieg Theater gemacht hat. Kultur, seriöse Kultur, sagt sie, sei Ausdruck menschlicher Würde. Etwas, was die Menschen in Sarajevo verloren zu haben glaubten. Sie seien gekränkt worden von ihrer Enttäuschung, ihrer Angst und den Unwürdigkeiten des täglichen Lebens.

Gebongt. Bis Jane Birkin, die dieses unglaubliche „Je t’aime moi non plus“ gestöhnt und damit den Papst völlig durcheinander gebracht hat, in einem Interview in der Weltwoche erzählt, sie sei auch nach Sarajevo gefahren. Statt Theater hatte sie Seidenhöschen, BHs und in einem Patronengürtel Lippenstifte dabei. Bevor sie losfuhr, hatte sie ihre Mutter angerufen und gefragt, was sie damals, als die Deutschen im Zweiten Weltkrieg ihr Haus bombardierten, mitgenommen hatte. „Sie sagte: ‚Ein Fläschchen Parfum von Elsa Schiaparelli.‘ Ich sagte: ‚Mama, wie frivol – kein Essen und keine Kleider?‘ Sie antwortete: ‚Du verstehst gar nichts – wenn einem alles genommen wurde, dann braucht man das Überflüssige.‘ “ Und als sie in Sarajevo ankam, hat sie gewusst, dass ihre Mutter Recht hatte. „Die Mädchen trugen elegante Kleider, die sie aus Vorhängen geschneidert hatten. Sie sahen aus, als kauften sie ihre Schuhe in Mailand. Und gingen zum Friseur in der Straße, die unter Beschuss von Heckenschützen lag.“

Es gibt Themen, die sind wie Ohrwürmer. Der Papst und „Je t’aime moi non plus“ fielen mir immer wieder ein. Auch als ich letztes Jahr in Belém, Brasilien, an einer Holzbaracke ein Schild entdeckte, auf dem Maniküre und Pediküre feilgeboten wurden. Von der staubigen Straße hatte der Stadtteil am Canal de Visconde wie ein Stück Brasilien aus dem Fernsehen gewirkt: Im Vordergrund gab es kleine, bunte Steinhäuser, im Hintergrund streckten sich die Häuser der Mittelschicht im knallblauen Himmel aus.

Doch wir, die elf Journalisten, verließen die Straße und landeten zielsicher hinter der Häuserfront inmitten von hunderten Bretterbuden, die auf Stelzen über einem Sumpf schwebten. Unter unseren Füßen begann es zu wackeln. Wir standen auf moosbewachsenen, dünnen Holzlatten, einem Steg, an dem die Bretterbuden angedockt waren wie Wracks in einem verrotteten Hafen. Zwischen den Ritzen moderten Windeln und Essensreste. Auf einer schiefen Veranda hockten drei Mädchen im Schatten und flochten sich gegenseitig Zöpfe. Mücken surrten, der Schweiß biss unter den Achseln.

Hausnummer 135, zwei Stockwerke, Wellblechdach. Irgendjemand von uns hatte an ihre Tür geklopft. Sie wehrte sich nicht, und so standen wir da, zu elft, die Mikrofone zwischen ihren vorstechenden Wangenknochen. Die Augen gewöhnten sich nur langsam an das bretterverschlagene Halbdunkel, doch dann tauchte das dünn gescheuerte, weiße Nachthemd auf, in dem der ausgemergelte Körper steckte.

Es war eng in der Hütte, wir mussten die Köpfe einziehen, während Maria da Cunha zwischen dem schmalen Türrahmen Halt suchte. Sie hatte ihr graues Haar auf dem kleinen Kopf zusammengesteckt, sodass die Haut zu sehen war, die ihren Hals umspannte, dünn wie Pergament. Sie hatte keine Zähne mehr. Warum, fragte niemand. Dafür aber, warum sie einen Fernseher habe.

Maria da Cunha sagte zu dem TV-Gerät nur, dass sie das Programm nicht immer verstehe, ihr Sohn müsse ihr das meiste erklären. Jeden Monat bekommt Maria da Cunha für sich und ihre Familie fünfzig Real von der Regierung. Fome Zero – Null Hunger – heißt das Hilfsprogramm, mit dem Präsident Lula die Armut Brasiliens bekämpfen will. „Wie wurden Sie in das Programm aufgenommen?“, wollten wir wissen, und Maria da Cunha erzählte, wie vor einem Jahr Sozialarbeiter an alle Brettertüren geklopft hatten und jeden fragten, wovon er lebe.

„Halten Sie sich selbst für hilfsbedürftig?“, fragten wir, den Zeigefinger auf das gerade von uns entdeckte Telefon gerichtet. „Mein Mann war früher Botengänger und bekommt eine Rente. Aber er ist Alkoholiker, er versäuft das Geld.“ Der Fernseher läuft den ganzen Tag, elegant gekleidete Frauen kochen in strahlend weißen Küchen. „Ich brauche kein Steinhaus, aber es wäre gut, wenn es eine Müllabfuhr gäbe, damit es hier nicht mehr so stinkt“, sagte Maria da Cunha zum Abschied.

Telefon und Fernseher, wo den Menschen vor Hunger die Zähne ausfallen. Das Leben hält sich nicht an die Grenzen meiner Vorstellungskraft, in der Armut aussieht wie auf Brot-für-die-Welt-Plakaten. Seit vier Jahren lebt Milana in einem Flüchtlingslager in Inguschetien. Sie floh mit ihrer Familie aus Tschetschenien, als ihre Tante in Grosny zum Wasserholen auf die Straße ging und eine Bombe direkt neben ihr ein Loch in die Erde riss. Die Tante überlebte verletzt, aber ein Passant wurde zerfetzt, einer Frau der Arm abgetrennt. Milanas aktuelle Lieblingsserie: „Wie werde ich ein Superstar?“ Auch Veronica Ferres kennt sie. „Die macht im russischen Fernsehen Werbung für Gesichtscreme.“

Milana steht vor dem Spiegel, über ihr baumelt eine Glühbirne vom Zeltdach, durch das ein rostiges Ofenrohr nach draußen in die Kälte verschwindet. Vier Katzen und sieben Menschen in einem Zelt, so groß wie ein deutsches Wohnzimmer. Zum vierten Mal zieht Milana das Zopfband aus ihrem Haar, kämmt und kämmt und kämmt. „Ich probiere gerne neue Frisuren aus.“

Wenn sie die richtige Frisur gefunden hat, wird sie wie jeden Tag ihre bronzefarbenen Stiefeletten anziehen und Brot holen gehen, zwischen Müll und Pfützen stöckeln, vorbei an gackernden Hühnern und Gänsen, die zwischen die blauen UN-Zelte und die überfüllten Plumpsklos kacken. Das Schlimmste ist die Langeweile. „Manchmal hocke ich nur auf dem Bett und warte.“ Sie putzt, wäscht Geschirr, holt Wasser und schrubbt den Boden. Nachts, wenn die rheumakranke Großmutter nicht mehr weint, hört sie über Walkman Eminem.

Auch ihr Nachbar Vacha hat einen Fernseher, darunter steht ein Videorekorder. Der Gasofen wärmt, es gibt Tee aus Porzellantassen. Wie von selbst fängt der Kopf an, die Geschichten der Menschen zu verdrängen, den Gestank da draußen, die feuchte Kälte der Nacht: sieht aus wie ein Campingurlaub an der Okertalsperre. Aber die Menschen hier erzählen von Mord, Vergewaltigung und Folter, von ausgerissenen Fingernägeln, von abgerissenen Armen und Beinen. Davor sind sie geflüchtet.

Warum lässt sich das so schwer begreifen, warum krallen sich die Augen immer wieder an Videorekordern, Fernsehern, immer wieder an den gleichen Bildern fest: Die Nacht ist klar zwischen den Zelten und Hütten aus Lehm und Stroh. Ein paar Glühbirnen leuchten, ansonsten ist es stockduster, keine Ahnung, wo man hintritt. Hunde bellen, Männer lachen, ein Kind weint. Es riecht nach Klo und nach dem Rauch, der durch die Ofenrohre steigt. Vacha und sein Cousin hocken in der Lehmhütte, die der Cousin für sich und seine zukünftige, aber noch nicht gefundene Frau gebaut hat. Sie jagen auf der Playstation mit einem bewaffneten Geländewagen amerikanische Schulbusse in die Luft.

Wenn ich an die dürre Gestalt von Maria da Cunha in ihrem weißen Hemdchen in der dunklen Bretterbude denke, könnte ich heulen. Aber denke ich an Lippenstifte, Fernseher und Telefon, tobt der Giftzwerg in mir, als hätten Vacha, Milana und Maria da Cunha mit ihren Anschaffungen das Elend, in dem sie hausen, selbst verursacht.

Dazu fand ich in einer 1995er-Ausgabe von Psychologie heute folgenden Satz von Leo Montada, Psychologieprofessor an der Universität Trier: „Wer eine Verteilung nach dem Leistungsprinzip für gerecht hält, sieht Ungleichheiten hier nicht als ungerecht, sondern als selbst verschuldet an und tendiert dazu, die eigene, bessere Lebenslage als verdient zu rechtfertigen.“ Die insgeheime Hoffnung, dass Not selbst verschuldet sein könnte, verdrängt wohl meine Angst, dass irgendwann jemand auf meine Schulter klopft, alle Zeugnisse, Sparbücher und meinen Führerschein zurückfordert und mich auf die Straße setzt.

Jane Birkin scheint eine solche Angst völlig fremd zu sein. Nachdem sie ihre Seidenhöschen in Sarajevo abgeworfen hatte, kehrte sie nach Paris zurück und diktierte der Weltwoche: „Ich verstehe jetzt, weshalb es Menschen gibt, die von einem Krisengebiet ins nächste reisen – es ist sehr aufregend. Und das Gefühl, gebraucht zu werden, ist einzigartig.“

GESINE KULCKE, 33, ist Autorin der Agentur Zeitenspiegel in Stuttgart