Lebensraum Megacity

In dem deutsch-chilenischen Forschungsprojekt „Risikolebensraum Megacity“ wird untersucht, wie die wachsenden Millionenstädte organisiert werden können und wie die Bewohner bei Entscheidungen sinnvoll einzubinden sind

Im Jahr 2000 lebten bereits 76 Prozent der lateinamerikanischen Bevölkerung in Städten

AUS SANTIAGO DE CHILE KARSTEN HÖHNKE

„Viele von denen da oben putzen bei denen da unten“, erklärt der chilenische Übersetzer. Die da oben, das sind die Bewohner einer ärmlichen Siedlung mit Sozialbauten und die da unten sind reiche Bürger Santiagos, die es sich leisten können, in einer sogenannten Gated Community zu wohnen, einem Wohngebiet, umgeben von einer hohen Mauer und mit Wachmännern am Eingangstor. Beide liegen nur etwa 200 Meter voneinander entfernt im Stadtteil Peñalolén, wo sich Bundesforschungsministerin Annette Schavan (CDU) im Rahmen ihrer Lateinamerikareise am vergangenen Montag bei einem Besuch vor Ort ein Bild von der Arbeit der deutsch-chilenischen Forschungsinitiative „Risikolebensraum Megacity“ gemacht hat.

Sozialräumliche Differenzierung ist dabei nur ein Untersuchungsfeld der durch das Leipziger Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) geleiteten Initiative. Vielmehr werden alle Aspekte beleuchtet, die das Leben in einer lateinamerikanischen Millionenstadt beeinflussen – sowohl von Menschen gemachte als auch natürliche. In dem Projekt arbeiten Wissenschaftler aus Natur-, Sozial- und Ingenieurswissenschaften interdisziplinär zusammen, wie die leitende Wissenschaftlerin Sigrun Kabisch der deutschen Delegation erläutert.

Die Entwicklung der Stadt wird als komplexe Struktur miteinander verbundener Prozesse begriffen. So werden zum Beispiel Hochwassermodelle entwickelt, da die Gemeinde Peñalolén am Fuße der von braungelblichem Smog verhangenen Anden im Winter regelmäßig von durch Starkregen oder Schneeschmelze verursachten Überschwemmungen heimgesucht wird. Gleichzeitig erörtern die Forscher den unterschiedlichen Umgang mit diesem Problem in den sozial grundverschieden geprägten Wohngebieten.

Die Forschungsinitiative sucht bei ihrer Arbeit stets den Kontakt mit den Entscheidungsträgern auf den verschiedenen politischen Ebenen. Ziel sei es, den an der Stadtplanung beteiligten Akteuren Handlungsempfehlungen zu geben, so Kabisch. Dabei stößt man durchaus auf offene Ohren: „Wir zeigen gern, was wir haben und was uns fehlt, damit man uns erklären kann, was wir besser machen können“, sagt der Lokalpolitiker, der die Ministerin begrüßt. Und auch die Bundespolitikerin betont im Interview die Bedeutung der Verbindung von internationaler Forschung und regionaler Entwicklung, die bei dem Ortstermin anschaulich wurde.

Aber nicht überall zeigt man sich offen. Vor allem in Bereichen, die stark mit ökonomischen Aspekten verknüpft sind, ist man im sehr wirtschaftsfreundlich geprägten Chile oft uneinsichtig. Bei der vor rund zwei Jahren recht chaotisch abgelaufenen Neuorganisation des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV), ein weiteres Untersuchungsfeld der Initiative, wurden vor allem die Interessen der Busunternehmen in den Vordergrund der zentral gesteuerten Planung des nationalen Verkehrsministeriums gestellt.

Die Interessen und Ideen der Bürger wurden dabei ebenso außer Acht gelassen wie die der 39 voneinander unabhängig agierenden Kommunen Santiagos. Eine stärkere Vernetzung und die Einbeziehung verschiedener Ebenen sind aus Sicht der Forscher hier dringend nötig.

Die Verkehrsplanung ist eng verknüpft mit der Bevölkerungswanderung innerhalb der Stadt. Die Bürger der Kommune Peñalolén, die ganz am Rand von Santiago liegt, haben erst seit kurzem mit dem Zuzug von reicheren Nachbarn zu tun. Diese haben nun einen längeren Arbeitsweg in die Innenstadt, der von den wohlhabenderen Einwohnern eher mit dem Auto zurückgelegt wird als mit dem ÖPNV. Dies hat zur Folge, dass mit dem Einverständnis des Staates von privaten Investoren mautpflichtige Autobahnen gebaut werden, anstatt etwa die ÖPNV finanziell besser auszustatten, was sich wiederum negativ auf die Luftqualität auswirkt.

Umweltthemen sind ein wichtiger Bestandteil der Megacityforschung. Müll- und Wassermanagement werden ebenso mit in die Betrachtungen einbezogen wie der mögliche Einsatz erneuerbarer Energien. Wasserkraft käme aufgrund der über das Jahr sehr stark variierenden Wasserstände der Flüsse nicht infrage, erklärt Helmut Lehn vom ebenfalls beteiligten Helmholtz-Forschungszentrum Karlsruhe der deutschen Delegation. Dafür seien jedoch Solar- und Windenergie angesichts der Lage Santiagos durchaus in Betracht zu ziehen. Entsprechende Studien würden erstellt, so Lehn.

Ein Schwerpunkt der Forschungsinitiative ist neben allen Themen auch die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Derzeit werden zwölf chilenische und acht deutsche Doktoranden aus Projektmitteln finanziert. Die Nachwuchswissenschaftler sollen die Möglichkeit erhalten, über Ländergrenzen hinweg Erfahrungen zu sammeln, aber auch über die Grenzen der unterschiedlichen Fächer hinaus sich auszutauschen zu können. So haben beim Ortstermin mit der Ministerin Doktoranden beider Länder ihre Forschungsvorhaben präsentiert.

Urbanisierung ist ein Thema der Zeit. Immer mehr Menschen zieht es in die Städte, nicht nur in Entwicklungs- und Schwellenländern. Nach Schätzungen der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (Cepal) lebten im Jahr 2000 bereits 76 Prozent der lateinamerikanischen Bevölkerung in Städten. Mit der steigenden Bevölkerungszahl konzentriert sich auch die Wirtschaftskraft in den Städten, was für die Entwicklung des Landes von Bedeutung ist.

Santiago gilt als „Ankerstadt“ des Forschungsprojekts, an dem mehrere chilenische Universitäten, die Cepal und insgesamt fünf Forschungszentren der Helmholtz-Gemeinschaft beteiligt sind. Ab 2010 will man die wissenschaftliche Arbeit auf weitere Städte wie Bogotá in Kolumbien ausweiten. Die Ergebnisse sollen Lösungsvorschläge für die Probleme von Megastädten und Ballungsgebieten weltweit sein.

Der Lokalpolitiker von Peñalolén denkt zwar nicht in diesem Maßstab, benennt aber mit einem der aus seiner Sicht dringendsten Probleme seiner Kommune ein globales: eine funktionierende Müllentsorgung, wenn möglich mit Recycling.