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Neue fürsorgliche Großzügigkeit

Die große, weite Welt der Großchoreografin Pina Bausch: In Berlin zeigte sie jetzt mit „Nefés“ ihre Hommage an Istanbul. Gleichzeitig stellte sie ein drei Wochen dauerndes Tanzfest in Wuppertal, Essen und Düsseldorf vor, für das sie erstmals als künstlerische Leiterin außerhalb des eigenen Hauses arbeitet

„Nefés“ schlägt einen Bogen zurück zur Tradition des AusdruckstanzesBauschs Ruf als Erneuerin einer Kunstform gleicht dem von Joseph Beuys

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Eine Tänzerin steht am Bühnenrand und zählt: „Eins, zwei, drei …“, bis zehn, und jedes Mal hebt sich der Stoff ihres langen Kleides und ein Tänzer kriecht lächelnd darunter hervor. „Meine Oma hatte zehn Kinder“, sagt dann eine der Stimmen, die Erinnerungsbilder und Schlüsselsituationen mit ein oder zwei Sätzen nur in die Stücke von Pina Bausch einstreuen. Auch „Nefés“ (Atem), 2003 als ein Album der Gefühle entstanden, die ihr Ensemble aus einem langen Aufenthalt aus Istanbul mitnahm, ist gespickt mit dieser Erzählweise, die epische Stoffe zu kurzen Miniaturen eindampft. In Berlin wurde „Nefés“ jetzt mit der Hilfe gleich zweier Festivals aufgeführt: als Abschluss von Tanz im August und als Beitrag von Simdi Now, einem türkischen Kulturfestival (Nachbericht folgt).

Pina Bausch ist … mütterlich geworden. Kaum traut man es sich zu sagen, so wenig gilt diese Eigenschaft als künstlerische Qualität. Aber es passt. Nicht nur, wie die Choreografin in ihren Stücken seit einigen Jahren den Soli der 20 Tänzer und Tänzerinnen immer mehr Raum gibt, als gelte es, loszulassen und sich an der wachsenden Autonomie ihrer „Kinder“ zu freuen, erweckt diesen Eindruck fürsorglicher Großzügigkeit. Sondern auch, wie sie am Tag vor dem Gastspiel auf einer Pressekonferenz in Berlin ein neues Festival – „Tanztheater. 3 Wochen mit Pina Bausch in Düsseldorf, Essen und Wuppertal“ (1.–24. Oktober) – vorstellte. In ihrer langsamen Wuppertaler Diktion, die so erdig und gemütlich klingt, wusste sie zu fast allen eingeladenen Künstlern aus Japan, London, Indien, Korea, Berlin oder Kasachstan ein freundschaftliches Verhältnis zu beschreiben: als ob ihr Dasein auf Erden nichts anderes sei als ein ständiges Erweitern der Pina-Bausch-Familie.

Die Tanztheaterchefin, inzwischen 63, ist seit Jahrzehnten ein Star und wird mit ihrer Wuppertaler Compagnie weltweit eingeladen. Nächstes Jahr zum Beispiel besteht ihre Verbindung zu Japan seit zwanzig Jahren. Ihr Ruf als Erneuerin einer Kunstform ist dem von Joseph Beuys vergleichbar. Seit 1986 ist aus den Gastspielreisen mehr geworden als nur der Auftritt in fremden Metropolen: Seitdem nutzt das Wuppertaler Tanztheater Einladungen nach Rom, Madrid, Lissabon, Palermo und Hongkong für mehrwöchige Recherchen vor Ort, ein Aufsaugen von Gerüchen, Geschichten, Bewegungsrhythmen, Geschwindigkeiten. „Nefés“ nahm so in Istanbul seinen Ausgang. Doch „klein“ nennt die Choreografin das Stück im Verhältnis zu dem, was sie mit ihren Tänzern in Istanbul empfangen hat, und wölbt dabei die Hände, als könnte der dreistündige Reigen der Frauen und Männer durch diese kleine Höhle ziehen.

In der Struktur, Soli wie Perlen auf eine Kette zu reihen und die einzelnen Bewegungsstränge nur in großen Abständen zu Gruppenbildern zu verflechten, ist „Nefés“ ornamental. Es gibt orientalische Anmutungen: zum Beispiel ein durchbrochenes Muster aus Licht und Schatten, das im Kreis über den Boden fließt und die langen Kleider der Tänzerinnen nur in der Bewegung aufschimmern lässt. Oder das Haar der Tänzerinnen, bei allen sehr lang, wird einmal wie ein Schleier vor das Gesicht gezogen. Ein Bild gilt der patriarchalen Gesellschaft, in der die Männer auf Stühlen sitzen und die auf allen vieren kriechenden Frauen wie Hunde am Nacken kraulen – aber solche Szenen fand Pina Bausch schon immer, nicht erst in Istanbul. Es gibt Szenen aus dem türkischen Bad, die übermütig und mit Kostümen aus flüchtigem Schaum von einer Intimität ohne Voyeurismus erzählen, und es gibt Bilder von der Kakofonie des Marktes und von einem Straßenverkehr, der mit ozeanischer Kraft tobt. Doch all das bleibt skizzenhaft und scheint nur für Momente auf.

„Wir erzählen nicht die Stadt, sondern was wir an Gefühlen aus ihr mitgenommen haben“, sagt Pina Bausch, und in dieser engen Verbindung von Motion und Emotion, Bewegung des Körpers und der Empfindungen schlägt „Nefés“ einen Bogen zurück zur Tradition des Ausdruckstanzes, aus der Pina Bausch vor vielen Jahren kam. Die Soli der Frauen begeistern von Anfang an durch die Sinnlichkeit der Form, den Fluss der Wellen, die durch die Wirbelsäulen der Tänzerinnen gleiten, die hübsch gerundeten Hintern, die durchaus unsere Augen zu lenken wissen, die Beredsamkeit der Arme und Hände. Und da beginnt es, dass man in den zuerst nur als schön genossenen Formen die Unterschiede des Ausdrucks wahrnimmt. Denn die Tänzerinnen, die zum Teil auch aus Indien, Korea, Indonesien kommen, phrasieren das verwandte Material sehr unterschiedlich. Es sind oft Details, Winzigkeiten, die doch zuletzt den großen Unterschied ausmachen. In einem Solo kann die Energie wild, ungebrochen und strahlend sein, die eigene Kraft nur genießend, und im nächsten erscheint sie aggressiv, ironisch gebrochen, gegen sich selbst gewendet.

„Nefés“ ist weit entfernt von kriegerischen Spannungen, ökonomischen Krisen, kulturellen Identitätsverlusten, kurzum: von allen Schlagworten einer aktuellen Situationsbeschreibung. Wie ein Antidot hält Pina Bausch, je länger diese Themen die öffentliche Aufmerksamkeit besetzen, in ihren Stücken Bilder von Nähe, Zärtlichkeit, Zuwendung hoch. Menschliche Energie verschwendet sich in vielen kleinen Hilfeleistungen. Arme von Umarmungen bleiben in der Luft stehen, auf dass andere dahinein wie in ein Hemd schlüpfen können. Vier Männer rollen einen Schrank herein, auf dem dann eine Tänzerin mit gespitzten Lippen auf Küsse wartet, für die die Tänzer sehr, sehr hoch springen müssen. Je zwei von ihnen begleiten gebückt den Gang einer Frau, um vierhändig ihren Rocksaum wie von Wind zu bewegen. Sechzehn Frauenhände greifen tröstend nach einem Mann, der in seinem Solo zuvor das Abrutschen, Fallen, Leerwerden, Weggleiten, Zusammenklappen geübt hat. Fast könnte man sagen, dass sich dies Stück in einem tröstlichen Zärtlichkeitsrausch ergießt.

Es scheint, als wäre so gar nichts Revolutionäres, Verstörendes mehr bei Pina Bausch zu finden. Ihre Stücke sind ruhiger geworden; aber auch ihr Publikum hat sich verändert. Pina Bausch, allgemein für ihre Wortkargheit berüchtigt, erzählt dazu ausnahmsweise eine schöne Geschichte, von „Iphigenie auf Tauris“, einer Tanzoper nach der Musik von Christoph Willibald Gluck. Die erste Inszenierung 1974 in Wuppertal stieß bei Tänzern, Musikern und den Sängern des Chores noch voll auf das Misstrauen gegenüber der neuen Tanztheaterchefin und ihrer ungewohnten Bewegungssprache. Die Proben waren vom Unwillen der Zusammenarbeit geprägt. Bei einer späteren Wiederaufnahme meinte der Chor, der noch immer aus den gleichen Sängern besteht, das sei jetzt aber eine neue Choreografie und sehr schön und ob sie nicht noch so ein Stück bekommen könnten. Verändert aber hatte sich nicht die Choreografie, sondern allein ihre Wahrnehmung davon.

Für das Tanzfest in Wuppertal, Essen und Düsseldorf, für das Pina Bausch zum ersten Mal als künstlerische Leiterin außerhalb ihres eigenen Hauses arbeitet, nimmt sie nicht nur einige ihrer frühen Arbeiten wieder auf, sondern lässt an einem Abend einzelne Solos von anderen und ganz unterschiedlichen Tänzern interpretieren. Zwei der ersten Stücke werden von der Folkwang Schule und Studio in Essen, denen sie noch immer verbunden ist, an einem Abend getanzt.

Was in der Musik tägliches Brot ist, die Interpretation anderer Autoren, ist im zeitgenössischen Tanz eine seltene Ausnahme. Nur ein Pina-Bausch-Stück, „Das Frühlingsopfer“, wurde von Tänzern der Pariser Oper einstudiert, die demnächst eine zweite Bausch-Produktion machen dürfen. Sonst ist ihr Werk so eng mit ihrer Person und ihrem Ensemble verbunden, dass Lesarten Dritter nicht vorkommen. Das macht die Aufführungen, auch wenn sich die Stücke zu gleichen beginnen, trotzdem zu einmaligen Ereignissen.

Zu ihren Gästen im Oktober gehören Dumb Type aus Kioto, Sidi Larbi Cherkaoui aus Belgien, Sasha Waltz aus Berlin, eine koreanische Rockband, Uhuboo Project, deren Musik sie schon verwendet hat, eine Sängerin aus Kasachstan, die eine seltene Stimmtradition pflegt. Ein Abend ist dem verstorbenen Jazz-Musiker Peter Kowald und seinem Global Village gewidmet.

Für eines der Bausch-Stücke, das in Hongkong entstand, lernen die Tänzer jeweils Sätze in der Landessprache. In Düsseldorf aber werden sie es jetzt statt in Deutsch mit japanischen Sätzen spielen, weil so viele Japaner in Düsseldorf leben.

Mit diesem Stück, „Der Fensterputzer“, feierten sie ihre ersten Erfolge in Istanbul. Die türkischen Sätze auf der Bühne überraschten das Publikum und sie glaubten hoffnungsfroh, die Tänzer sprächen Türkisch. Weil sich im Stück zudem Tänzer ihre Passfotos zeigen, tauchten nach der Vorstellung viele Besucher hinter der Bühne auf, um ihre Familienfotos zu zeigen. So beginnen die Geschichten, wie sich ein Ensemble in eine Stadt verliebt und umgekehrt. Es mögen Legenden sein, man hört sie trotzdem gern.

Informationen unter www.pina-bausch.de/fest

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