Scheitern mit System

Dieser Minimalismus läuft und läuft und läuft: Ausstellungen in Berlin und Wolfsburg zeigen das Werk von Francis Alýs. Von Dantes Hölle bis zum Mitleid mit einem VW-Käfer ist es nur ein Schritt

VON HARALD FRICKE

Es gibt Künstler, die spielen für die Verkaufscharts keine Rolle. Francis Alýs ist so ein Beispiel: Seine Videos kommen ohne teure Digitalproduktion aus, seine Miniaturgemälde wirken wie surreale Aufzeichnungen eines Autodidakten, der sich niemals mit den Tafelbildern der neuen Leipziger Schule messen könnte; und seine Fotos rotieren als Diashow im Projektor, wie man es von Urlaubsfotos kennt.

Diese Widerspenstigkeit gegenüber dem Markt macht die Arbeiten wiederum für Museen, Biennalen und unter Kuratoren attraktiv. In Alýs lebt die Tradition von Fluxus fort, weshalb etwa Klaus Biesenbach als Leiter der Berliner Kunst-Werke für dessen „poetischen narrativen Minimalismus“ schwärmt. Nicht ohne Folgen; mittlerweile gehört der 1959 geborene und seit 1987 in Mexiko lebende Belgier zu den betriebsinternen Stars: Er hat in den letzten zwei Jahren bei gut 25 Ausstellungen mitgewirkt und war 2002 für den Hugo-Boss- Prize des New Yorker Guggenheim vorgeschlagen. Weil ihm die Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken, in deren Jury eben auch Biesenbach saß, den mit 77.000 Euro dotierten „Blue Orange“-Preis verliehen haben, präsentiert er nun im Berliner Martin-Gropius-Bau einen Überblick aktueller Arbeiten. Parallel zeigt das Kunstmuseum Wolfsburg eine Werkschau der vergangenen zwölf Jahre.

Dabei dürfte Alýs dem breiten Publikum vermutlich nur durch ein Video bekannt sein. In „Re-Enactment“ aus dem Jahr 2000 sieht man den Künstler mit einer 9-mm-Beretta in der Hand durch die Straßen von Mexiko-Stadt gehen, bevor er nach zwölf Minuten von der Polizei gefasst wird. Die Kamera bleibt im Geschehen stets eng an seinem schlaksigen Körper und wackelt bei jedem Schritt wie in einer hektischen Live-Reportage. Später stellte Alýs die Aktion noch einmal nach, Ordnungskräfte inklusive. Beide Filme sind in der Projektion so hintereinander montiert, dass man Wirklichkeit und Inszenierung kaum auseinander halten kann.

In Wolfsburg läuft „Re-Enactment“ im letzten Raum eines Parcours, der laut Alýs dem „Höllenkreis Dantes“ nachempfunden wurde. Zuvor hat man auf der Straße schlafende Männer und Hunde gesehen, fliegende Händler, die irrsinniges Gepäck mit sich herumschleppen und kleine Wägelchen mit Magneten als Altmetall sammeln. So fällt die Abschiedsausstellung von Gijs van Tuyl, der nach zehn Jahren als Direktor in Wolfsburg ans Amsterdamer Stedelijk-Museum wechselt, fast karg aus im Vergleich zum sonstigen Champagner-Programm des Hauses.

Dennoch wird die Trostlosigkeit immer wieder gebrochen, liegt doch auch in der informellen Ökonomie einiger Anreiz für die Zukunft. Alýs weidet sich nicht an den Verhältnissen, vielmehr spiegeln die Videos und Diaprojektionen seine eigene Fremdheit im Land: 1987 kam der belgische Architekt in Mexiko-Stadt an, um nach dem verheerenden Erdbeben von 1985, bei dem fast 10.000 Menschen starben, für diverse NGOs beim Wiederaufbau mitzuarbeiten. Doch das urbane Durchwurschteln gab ihm Rätsel auf: Zerstörte Hochhäuser wurden nicht abgerissen, sondern notdürftig mit Stahlbändern geklammert. Alles lief auf provisorische Lösungen hinaus, die nicht ins westliche Ordnungsraster passen. Zwischen Aztekenkult und kolonialem Katholizismus war Mexiko-Stadt eine für Alýs verschlossene Stadt, die Schicht für Schicht erkundet werden musste wie eine archäologische Stätte.

Statt aber zu graben, ging er spazieren, inspizierte die Architektur und machte auf seinen Wanderungen Fotos vom Alltag in der 18-Millionen-Einwohner-Metropole. Immer wieder blitzt in den Arbeiten der Situationismus durch: So zeigt eine Reihe mit Fotos, wie sich Passanten auf dem Zocalo-Platz in Mexiko-Stadt im schmalen Schatten eines überdimensionalen Fahnenmasts versammeln, um sich vor der Mittagssonne zu schützen. Ein anderes Mal wird die Stange zum Zentrum der skurrilen Video-Performance „Cuentos patrioticos“ (patriotische Erzählungen) von 1997, bei der ein Mann mit einer wechselnden Zahl an Schafen im Kreis marschiert. Der Film beruht auf einer Protestaktion aus den 60er-Jahren, bei der sich Staatsbeamte weigerten, für die Einheitspartei zum Jubeln auf die Straße zu gehen.

Solche Szenen sind kurzweilig und zeugen von einem sehr belgischen Humor, der gleichermaßen an Jacques Tatis slapstickhaft steife Komik und an die boshaften Zeichenspäße eines René Magritte erinnert. Den Bezug zur politischen Lage in Mexiko sucht man indes vergebens – lieber nimmt es Alýs in Kauf, mit seinen verspielten Beobachtungen als Romantiker eingestuft zu werden. Ärgerlich ist in Wolfsburg die Präsentation der Serie mit den „Ambulantes“ genannten Straßenhändlern: Obwohl Alýs im Katalog erklärt, wie wichtig ihm bei den Aufnahmen war, dass er seine Protagonisten auf Augenhöhe fotografierte, werden die Bilder, kaum zeichenblattgroß, knapp oberhalb der Fußbodenleiste gezeigt. Hier kippt das Interesse an Mexiko in Verniedlichung um.

Dagegen ist die Berliner Ausstellung stärker aufs Driften fokussiert. Überall sieht man in endlos geloopten Videos alltägliche Handlungen, die zu nichts führen. Ein Junge bolzt eine Cola-Flasche auf hügeligen Wegen herum, ein Mädchen schüttet in einem Zeichentrickfilm unentwegt Wasser von einem Glas in ein anderes. Nutzlos vergeht Zeit, das ist Alýs’ Rebellion gegen die globale Geschäftigkeit – auch des Kunstbetriebes. Das zeigt besonders augenfällig der neue Film „Ensayo 1“ (Probe 1), in dem ein feuerroter VW-Käfer immer wieder vergeblich einen Berg hinaufzufahren versucht. Schnell empfindet man Mitleid mit dem klapprigen Gefährt, doch das sisyphoshafte Scheitern folgt einem ausgeklügelten System: Alýs hat seine Rallye nach den Proben einer Bigband eingerichtet – sobald die Musik abbricht, stoppt auch das Auto. Irgendwann stromert ein Hund vorbei, knurrt kurz und legt sich dann, vom Knattern des Käfers ungerührt, schlafen.

Bis 28. 11., Kunstmuseum Wolfsburg, Katalog: 19 €; bis 18. 10., Martin-Gropius-Bau, Berlin