piwik no script img

Archiv-Artikel

montags: forum! (5) Kennzeichen D: Bericht aus Dornröschenland

Montags streitet der Norden über die Sozialreform: Gruppen unterschiedlicher Couleur gehen gegen Hartz IV auf die Straße. Aber eine Demo ist kein guter Platz fürs Argumentieren. In der taz-Nord Serie Montags: Forum! beziehen deshalb Experten und Engagierte Stellung zum Um- oder Abbruch des Sozialstaats

Es war einmal ein Land, das marschierte an der Spitze des Fortschritts, so dass Könige und Volk dachten: Wir können doch stolz sein, besser zu sein als die anderen. Wir sind das Land der rauchenden Schlote und der hämmernden Maschinen und immer noch das der Dichter und Denker obendrein. Bei uns haben es alle gut, so gut, dass wir nun gelassen die Früchte der Anstrengung früherer Jahrzehnte ernten können, und wenn wir nur noch ein wenig abwarten, dann werden wir wohl das Paradies bald erreichen. Da kamen Boten geritten aus gar nicht so fernen Ländern, die sagten: Öffnet eure Augen, schaut euch nur um, ihr seid nicht das, was ihr denkt. Euer Land ist schrecklich rückständig geworden! Extrem hohe Transferausgaben leistet ihr euch, doch sie bewirken dauerhaft nichts zur Verbesserung der Schwachen. Ihr habt auf Permanenz angelegte Fürsorgezonen etabliert und verwaltet bloß eine extrem hohe Arbeitslosigkeit. Mehr rauchende Mädchen habt ihr und mehr gewalttätige Jungen und Männer, und ein schlechtes Bildungssystem obendrein. Weniger erwerbstätige Frauen und ein traditionelles Rollenbild. Es war einmal ein Land, das war stolz auf seinen Sozialstaat bis zur Überheblichkeit. Könige und Volk waren sich einig: Wir waren doch die ersten, die das geschaffen haben, da können die anderen uns noch lange nicht eingeholt haben. Haben wir nicht Sozialversicherungen, die an der Sicherung des Ernährer-Lohnes ausgerichtet sind? Unsere Frauen müssen gar nicht arbeiten, denn sie sind ja beitragsfrei mitversichert. Und haben wir nicht obendrein eine soziale Fürsorge, die auch den Übrigen ein immerhin auskömmliches Leben sichert und sie vor der Zumutung der Erwerbsarbeit schützt? Zwei Millionen, fünf Millionen, acht Millionen, das schaffen wir doch locker!

Da kamen Boten geritten aus gar nicht so fernen Ländern, die sagten: Euer Sozialstaat ist altmodisch und vor allem ungerecht geworden, er bekräftigt soziale Unterschiede statt sie einzuebnen. Bei euch ist sogar die soziale Unterstützung noch dauerhaft hierarchisch gestaffelt. Ist es denn gerecht, wenn der Ingenieur im Bedüftigkeitsfall mehr staatliche Zuwendung erhält als der Müllarbeiter, als die Verkäuferin? Reißt doch diese starre Grenze ein zwischen Sozialversicherung und Sozialfürsorge, denn merkt ihr nicht: Die eine Seite ist die starke, von der die Männer besonders profitieren, die andere die schwache, in die immer mehr Frauen mit Kindern abgedrängt werden. Kein Wunder, dass ihr hinten dran seid, was die Geschlechtergerechtigkeit betrifft.

Es war einmal ein Land, in dem manche endlich merkten, wie hoch die Dornröschenhecken inzwischen gewachsen waren. König Gerhard stampfte mit dem Fuß auf den Boden, Prinzessin Angela zog am gleichen Strang, und auch die holden Schwestern Katrin, Krista und Renate waren mit dabei. Der gestrenge Ritter Wolfgang sollte es für alle richten. Schluss mit der Barriere zwischen Versicherungs- und Fürsorgestaat; Gleichheit statt sozialer Status in den Transferleistungen; Ankoppelung an die Erwerbsgesellschaft statt Einkapselung in Marginalität.

Das war ein riskantes Spiel, denn die Königsfamilie hatte selber noch nicht ganz begriffen, warum die Veränderungen nötig waren, und konnte sie deshalb auch nicht richtig erklären. Kein Wunder, wenn das Volk auf die Straße ging und protestierte, denn bisher war doch alles gut gegangen. Und ruhten die königlichen Reformen nicht auf Säulen, deren Standfestigkeit noch nicht erwiesen war? Wo waren die Jobs, und wo war die Kinderbetreuung für Sozialhilfemütter? Wo war das Signal an die Edelleute, sich an den neuen Anstrengungen zu beteiligen? Warum kannst du nicht schlafen, mein Kind? Es ist doch alles nur ein Märchen, aber wie es ausgeht, das weiß ich auch noch nicht.