Einer, der auszog, den Ekel zu lernen

Das Märchen von Onkel Heinz, dem Kunstreligiösen: Fantasien über den Typus des ewigen Kopfschüttlers, nebst einigen kopfnickenden Ausflügen ins Nachdenken über diese unsere Medienwelt und Populärkultur – von Dieter B. bis hin zu Adorno

Heinz ist erschüttert: Hölderlin zitieren und Dieter B. gut finden: Darf man denn das?

von DIRK KNIPPHALS

Dies ist die Geschichte eines Mannes, der zwei Sachen besonders gut kann: den Kopf schütteln und mit dem Kopf nicken. Dies ist die Geschichte von Onkel Heinz und seinen Ausflügen ins Nachdenken über unsere Medienwelt und Populärkultur.

Anlass dazu, den Kopf zu schütteln, hat Onkel Heinz viel, besonders mit der Fernbedienung in der Hand. Auf dem einen Kanal ein Bericht über die Buchmesse unter besonderer Berücksichtigung des Stargastes Dieter B.: Kopfschütteln. Auf einem anderen Kanal talken Moderatoren mit anderen Moderatoren, nur um deren neue Sendung zu promoten: Kopfschütteln. Im dritten Kanal kreischende Dreizehnjährige, die beinahe in Ohnmacht fallen, weil ein Milchbubi ein Mikro in der Hand hält: Kopfschütteln. Zurück zum ersten Sender, Werbung, wieder Dieter B., diesmal im Grinseeinsatz für Müller-Milch: heftiges Kopfschütteln.

So schaltet sich Onkel Heinz angewidert durchs Fernsehprogramm und sieht dabei seltsam aus: Die Fernbedienung hält er nach vorn Richtung Glotze, der Zeigefinger bleibt auf den Programmknöpfen liegen, den Rücken drückt er vom Fernseher weg tief in die Sessel hinein. Natürlich könnte er auch ein gutes Buch lesen. Aber das ist das Seltsame an Onkel Heinz: Er kann es nicht lassen – auch wenn er bald nur noch Hass, Verachtung und Ekel spürt. Jawohl, Hass, Verachtung und Ekel gegenüber diesem ganzen Schund. Ist die Welt denn total verblödet? Das kann doch alles nicht wahr sein!

Nun hat Onkel Heinz einen Neffen, und wenn der ihn so sieht, kommt es zu Diskussionen. Das ist eben nicht für dich gemacht, Onkel Heinz, sagt der Neffe, schalte doch auf Arte um. Papperlapapp, sagt Onkel Heinz, willst du diesen Mist auch noch verteidigen? Das will der Neffe manchmal. Manchmal will er nicht. Er mag auch nicht alles.

Einmal bringt der Neffe die Musikzeitschrift Rolling Stone mit. Ein Soziologieprofessor erklärt dort, was die Kreischanfälle junger Mädchen für einen Sinn haben könnten. Für ihn sind das emotionale Entladungen, die Katharsis produzieren, genauer: Simulationen von Entladungen, die andere Entladungen kopieren, von denen die Mädchen gehört haben. Schön und gut, sagt Onkel Heinz und legt die Zeitschrift wieder weg, aufpassen, dass sie nicht verblöden, müssen sie trotzdem. Der Neffe hat den Eindruck, dass sein Onkel gar nicht genau gelesen hat.

Manchmal aber hat Onkel Heinz auch Gelegenheit, mit dem Kopf zu nicken. Beim Adorno-Geburtstag konnte er viele gute Sätze in den Zeitungen lesen. Etwa diesen: „Adorno behauptet allen Ernstes, das Schicksal der Gesellschaft hänge am seidenen Faden ihrer symbolischen Differenziertheit, dem Reichtum ihrer Kunst, Überlieferung und Sprache.“ Schicksal der Gesellschaft, Reichtum der Kunst, großes Kopfnicken.

Oder diesen Satz: „… das für Adorno so Erschreckende am Verhalten der Kultur- und Unterhaltungskonsumenten ist nicht so sehr, dass sie betrogen werden, ohne es zu wissen, sondern dass sie ‚einen Betrug wollen, den sie selbst durchschauen‘ “. Wieder Kopfnicken. Die Menschen wollen betrogen werden! Aber er, Onkel Heinz, ist nicht einverstanden, und wenn er die Einzige sein sollte, der die Sache durchschaut!

Wie hatte dieser Soziologieprofessor Ulrich Oevermann noch gesagt? „Die Entwicklung der vergangenen 30 Jahre hat Adorno im Grunde bestätigt.“ Auch das wiederum kann Onkel Heinz nur kopfnickend bestätigen. Ihm fällt ein Adorno-Satz ein, den er einst wild unterstrichen hat: „In der falschen Gesellschaft hat Lachen als Krankheit das Glück befallen und zieht es in ihre nichtswürdige Totalität hinein.“ Natürlich, Spaß muss sein, Onkel Heinz ist kein Spielverderber, aber dies Lachen ist doch krank. Immerhin gibt es noch Menschen, die kritisch sind, die Widerstand leisten gegen den Zwang zum Spaß, die Hegemonie der Dummheit. Immerhin.

Aber dann sein Neffe wieder. Man dürfe doch nicht nur sehen, was die Medien mit den Menschen machen, sondern auch, was die Menschen mit den Medien machen – umschalten nämlich, wenn es ihnen nicht gefällt … Nur Onkel Heinz, der könne offenbar nicht umschalten … Und dass so einer wie Dieter B. Bücher veröffentliche und damit Erfolg habe, spreche doch nicht für eine Verdummung, sondern im Gegenteil für eine breite Wertschätzung des Buches – auch die, die früher nur Bild gelesen haben, lesen jetzt Bücher …

Aber diese Argumente kennt Onkel Heinz schon. Kopfschüttelnd winkt er ab und zieht die erste Seite der Zeit von vergangener Woche hervor. „Gerade die vollkommene Harmlosigkeit des boulevardesken Amüsierbetriebes macht diesen so tödlich“, steht da. „Er raubt Zeit und Aufmerksamkeit für die wichtigeren Dinge des Lebens, verdrängt die Informationen über entscheidende politische Ereignisse, lenkt ab in den reinen Blödsinn.“ Während Onkel Heinz vorliest, bekommt seine Stimme ein ergriffenes Tremolo: „Die Wertschätzung des Populären … wäre dann aber eine Tugend, an der die Demokratie genauso gut zugrunde gehen kann.“

Da muss der Neffe lachen: „An Dieter B. soll die Demokratie zugrunde gehen?!“ Ob das nicht zuviel der Ehre sei. „Die Aufmerksamkeit ist ein rares Gut“, sagt Onkel Heinz. „Die Demokratie braucht mündige Bürger, keine Dieter-Leser.“ – „Vielleicht widerspricht sich das gar nicht“, antwortet der Neffe. Und so geht es dahin, das Argumentieren und Kopfschütteln zwischen Onkel Heinz und seinem Neffen, und wird wohl immer neue Anlässe finden.

Einmal fällt Onkel Heinz auf seiner Suche nach Bestätigung seines Ekels dann aber doch herein, findet zumindest sein Neffe. Das ist, als er einen Vortrag besucht: „200 Jahre deutsche Kunstreligion“, gehalten von einem jungen Germanisten, Lyriker und Kleist-Preisträger. Onkel Heinz lehnt sich schon erwartungsvoll zurück.

Doch dann geschieht etwas, womit er nicht gerechnet hat. Alle Zaubernamen und Zauberwörter mit Wallungswerten fallen – Romantik und Avantgarde, Wille zur Wahrheit und Kulturkritik, Novalis, Hölderlin und Benn –, aber der Germanist findet gar nicht gut, was die machen. Das „Reich der Kunst“, das sich über den profanen Alltag erheben soll, wertet er als antiliberale Volte. Die deutschen Dichter und Denker, so der Germanist, wollten zurück zur Heroenzeit und die Moderne „versinken, untergehen, verschwinden“ sehen. Dann das Fazit: „Der ästhetische Modernismus hat einen Einheitsfuror, in ihm lebt eine gefährliche Sehnsucht nach substanzialistischen Wahrheiten, er ist grundiert von Machtphantasien seiner Wortführer.“

Spaß muss sein, Onkel Heinz ist kein Spielverderber, aber dies Lachen ist krank

Außerdem zieht der Germanist einen großen Bogen bis ins Heute – bis zur Konsumkritik der DDR-Intellektuellen und der Werbungskritik der West-Intellektuellen, bis zum Anti-Egalitarismus Adornos und der Gesellschaftsfeindschaft aktueller Schriftsteller. Dieter B. erwähnt der Germanist nun nicht. Aber es gibt keinen Zweifel, dass er keineswegs in ihm das zentrale Problem der heutigen Kultur sehen würde. Sondern im Fortwirken einer gescheiterten und deshalb aggressiv oder depressiv gewordenen Kulturkritik.

Onkel Heinz ist erschüttert. Jemand, der Hölderlins „Brot und Wein“ und Novalis’ „Hymnen an die Nacht“ zitiert und im Zweifel eher über sie als über das Fernsehprogramm den Kopf schütteln würde – darf der denn das? Der Finger des Onkels zuckt, fast scheint es dem Neffen, als suche Onkel Heinz nach einer imaginären Fernbedienung. Nur schnell umschalten auf ein anderes, ein flaches, ein bestätigendes Programm.

Da fasst sich der Neffe ein Herz. Er wolle gar nicht, so hebt er an, die These der Birmingham School der Cultural Studies vertreten, dass das Populäre stets das Widerständige sei, denn da alle kulturelle Ausdifferenzierung mittlerweile von der bürgerlichen Mittelklasse ihren Ausgangspunkt nehme, könne heute vom Widerstand durch Teilhabe an irgendeiner Art von Kultur nicht mehr die Rede sein. Auch wolle er nicht darauf eingehen, dass die populäre Kultur drei wichtige Voraussetzungen habe, nämlich Rezeptionsfreiheit (sie ist keine Kultur des Zwangs), Wohlhabenheit (sie ist Luxus) und öffentliches Gespräch, die man unbedingt verteidigen solle – wie immer man zu den einzelnen Ergebnissen der populären Kultur stehe. Auch wolle er nicht darauf eingehen, dass populäre Vergnügungen heutzutage zwar zum Glück nicht mehr verboten werden, aber als vulgär immer noch unter ein rigides Geschmacksurteil fallen. Schließlich glaube er auch gar keineswegs wie viele Vertreter der Popkultur noch in den Sechzigern daran, dass die populäre Kultur einem hohen Kunstbegriff insgesamt den Garaus gemacht habe.

Aber was man doch sehen müsse, ist, dass der Reichtum unserer Kultur insgesamt gerade darin bestehe, durch das Mit-, Gegen- und Nebeneinander von Hochkultur und populärer Kultur vielfältig zu sein. Das bedeute noch lange nicht, dass jeder Dieter B. gut finden müsse. Aber Onkel Heinz gehe es sowieso gar nicht um Dieter B. selbst; sondern er benutze ihn als Popanz, um über die populäre Kultur als Ganze den Kopf schütteln zu können …

Stopp!, ruft da Onkel Heinz. Und dann tut er etwas, was er sonst nie tut und seinen Neffen mit dem Gefühl zurücklässt, dass aus seiner Rede nichts hervorgehen wird: Onkel Heinz zuckt mit den Achseln. Du hast eben deine Meinung, ich behalte meine, sagt er. Und geht nach Haus, vor den Fernseher.

Na ja, und wenn er nicht gestorben ist, dann schüttelt er den Kopf noch heute.

Das Interview in der Oktober-Ausgabe des „Rolling Stone“ wurde mit Peter Fuchs geführt, Soziologieprofessor und taz-Autor. Der Vortrag „200 Jahre deutsche Kunstreligion“ ist eine Paraphrase des gleichnamigen Essays von Dirk von Petersdorff, greifbar in dem Band „Verlorene Kämpfe“ (Fischer Verlag). Die letzten Sätze des Neffen variieren Thesen aus der Einleitung zum „Handbuch Populäre Kultur“, herausgegeben von Hans-Otto Hügel (Metzler Verlag).Onkel Heinz ist frei erfunden.