No future, now!

Was das CBGB in New York war, ist das SO 36 in Berlin – und zwar immer noch. Das ehemalige Kino mutierte 1978 zu einem Veranstaltungsort. Die überaus lebendige Legende feiert heute Abend ihren 30. oder vielmehr 31. Geburtstag. Ein Ständchen

Zur Kraft des SO 36 gehören Humor und Ironie, was flachen Trendscouts oder rigiden Fundamentalisten völlig abgeht

VON WOLFGANG MÜLLER

Das Einzigartige am SO 36 ist, dass es immer geschafft hat, sich lokal zu verwurzeln, ohne dabei Provinz zu werden. Im Gegenteil. Erst die Verwurzelung stärkt sein feines Gespür für globale soziale und künstlerische Entwicklungen. Aus den Intensitäten der sich an dieser Ecke Kreuzbergs, dem Heinrichplatz, einfindenden multiplen Diasporen, so etwas wie ein Familiennetz. Dieses gründet sich weniger auf Traditionen, als auf Freundschaften. Das SO 36 ist mit einem Wort: Glokal.

Es beginnt 1978 mit einem ironischen „Mauerbaufestival“, bei dem rheinische Punkbands wie S.Y.P.H. und Mittagspause und experimentelle Gruppen wie DIN A Testbild auftreten. Als Martin Kippenberger ein Jahr darauf den Konzertraum pachtet, um New Yorker No Wave mit Ideen moderner, performativer Kunst zu kombinieren, stellt sich Kreuzberg noch als ziemlich grauer und ärmlicher Ort dar. Den Slogan „This Man is Playing on Luxus“ druckt der Künstler auf Plakate.

Natürlich weiß er um die Provokation, die er mit dem Gebrauch des Worts „Luxus“ in diesem trüben Ambiente auslöst. Es ist „Ratten-Jenny“, Tochter eines Berliner Kriminalkommissars, die ihm deswegen sein Gesicht demoliert: Zuvor hat Pächter Kippenberger die Punkerin aus ihrem Stammlokal, dem SO 36 geschubst. Sie stürzt und ihr Bierglas zerbricht in der blutenden Hand. Mit dem übriggebliebenen Glasrest erwidert „Ratten-Jenny“ die Attacke. Martin Kippenberger zieht anschließend wieder nach Köln. Dort kommen sich Punk und Kunst nicht allzu nah. Zuvor aber dokumentiert er sein verletztes, bandagiertes Gesicht. So entsteht seine international bekannte Kunstikone: „Dialog mit der Jugend“ – und jeder im Land denkt fortan: Aha, das also ist Kreuzberg 36.

Und der Dialog mit der Jugend? Tatsächlich ist „Ratten-Jenny“ nur drei Jahre jünger als Martin Kippenberger. Wie er wird auch sie zur Legende. Als am 29. März 2007 Malaria-Frontfrau Bettina Köster im SO 36 ein Konzert mit dem Titel „Ratten-Jenny. Bitte melden!“ veranstaltet, wird die seit dreißig Jahren Verschollene wenige Wochen später mit pinkfarbenem Iro in der Kreuzberger Oranienstraße gesichtet. Seit ihrem blutigen Zusammentreffen mit Kippenberger lebt sie in London. Nicht nur äußerlich ist sie sich treu geblieben: gegen Nazis, Macker und Sexisten. Später geht sie ins SO 36 und fragt, ob das eine Unterstützeraktion für sie gewesen sei. Legenden können eben sehr lebendig sein.

Von Anfang an ist das SO 36 Veranstaltungsort vieler Gruppen aus dem Umfeld der Berliner Genialen Dilettanten. Von den Ärzten über Lydia Lunch und der Industrialband Throbbing Gristle reicht das Spektrum der Bands, die hier auftreten. Zwischendrin singen Valie Export und Ingrid Wiener österreichische Schmuddellieder. Heute treten junge, eigenwillige Bands wie RobotroN auf.

Die offiziellen Westberliner Kulturinstanzen bekommen von dieser einzigartigen Mixtur aus sogenannter Hoch- und Subkultur damals nicht viel mit. Wie im Ostteil, wird auch im Westteil in den Achtzigerjahren fast ausschließlich realistische Kunst gefördert – sozialistischer Realismus hier, wilder oder kritischer Realismus da. Für Performatives, Konzeptionelles, Musik und Kunst in Zwischenbereichen fehlt jede Antenne. Die seit Mitte der Neunziger populäre Installation einer „Bierbar“ oder eines „Clubs“ in der Kunsthalle, der DJ im Kunstverein, der zur Eröffnung der Ausstellung spielt, die Eröffnungsperformance im sterilen Kunstambiente sind vor allem aufgewärmte Relikte aus dieser übersehenen „Subkultur“ der Achtzigerjahre.

Derweil geht es im SO 36 weiter voran. Ab 1995 werden Techno-Tanzpartys, genannt „Electric Ballroom“, und die ersten Queerpartys veranstaltet. Während die taz noch blasiert über die „Gayhane“-Party nach dem Transgenialen Kreuzberger CSD mäkelt – egal, ob nun türkisch oder arabisch, diese Achtziger-Discomusik hätten „wir“ doch längst hinter uns –, etabliert Fatma Souad mit „Gayhane“ die erste „Oriental Night für Lesben, Schwule, Transen und deren Freunde“ in Deutschland überhaupt. Ein Ticket in den Mainstream erhalten jetzt die, die lieber über den „Machismo des Muslims“ oder seine „Rückständigkeit“ diskutieren. Der Mainstream hat die Homos inzwischen als „zivilisiert“ integriert, nun sollen sich die „Orientalen“ endlich an „uns“ anpassen.

Zur Kraft des SO 36 gehören Humor und Ironie, etwas, was verbissenen Ideologen, flachen Trendscouts oder rigiden Fundamentalisten völlig abgeht. Manch alt gewordener Linker wundert sich deshalb heute, wie radikal er einst war. Von vielen Expunks, Exhausbesetzern und Alternativen wird nun das bürgerliche Milieu mit der gleichen Vehemenz, mit der es damals abgelehnt wurde, als alternativlose Realität empfunden und gepriesen. So bleibt naturgemäß wenig Raum für die Wahrnehmung anderer Möglichkeiten.

Früher kämpften wir gegen die Faschisten, heute ärgern wir uns über Leute, die ihren Hund das Geschäft auf dem Bürgersteig verrichten lassen, beschreibt etwa die Kreuzberger Schriftstellerin Iris Hanika den Weg in die aufgeklärte Welt des Bürgers. Das SO 36 braucht diesen langen Marsch nicht zu gehen: Es war nämlich schon immer spießig. Dazu unvernünftig und pubertär.

Oder klarer ausgedrückt: Es hat sich von Anfang an erlaubt, zu seiner Bürgerlichkeit und immerwährenden Pubertät zu stehen. Kein Entweder-Oder. Warum sollten schwule und lesbische Paare eigentlich nicht wie im „Café Fatal“ klassische Gesellschaftstänze tanzen? Und warum sollte die lokale, queerorientalische Diaspora eigentlich nicht zu New Yorker Discomusik aus den Achtzigerjahren ausflippen können?

Das Achtzigerjahre-Bild vom humorfreien Bezirk Kreuzberg, wo edle Gastronomen die Flucht vor einem gewaltbereiten Anarchomob ergreifen, ist daher auch ein Mythos, ein romantisches Märchen. Eine lächerliche Einzelaktion der sogenannten Kübeltruppe gegen das Restaurant „Maxwell“ wurde medial enorm aufgeblasen und stilisiert Kreuzberg seitdem zum Ort verfolgter Feinschmecker und Jaguarfahrer. Andere Gourmettempel wie das Künstlerlokal „Exil“ von Ingrid und Oswald Wiener waren mindestens genauso teuer und kamen mit dem Standort Kreuzberg 36 über Jahrzehnte lang problemlos klar.

Was ist also das Geheimrezept des SO 36? „Eigentlich gibt es nur vier Punkte: Kein Faschismus, kein Sexismus, kein Rassismus, keine Homophobie“, sagt Lilo, eine der Betreiberinnen, heute. Eines ist klar: Wenn ein Club wie das SO 36 in Köln, München, Stuttgart oder Hamburg existieren würde – in jedem Touristenshop läge längst ein dickes, schickes Kultbuch herum, mit ausführlichen Texten und vielen bunten Bildern. Punk trifft Queer: No future, now!

Der 30. Geburtstag wurde übrigens vergessen, eine Feier fand nicht statt. Wenn am heutigen Samstagabend ab neun „30 Jahre. Die Große Geburtstagsgala“ gefeiert wird, müsste es im Grunde heißen: „31 Jahre“. Ein weiterer Beweis für die sympathische Mischung aus Konvention bei gleichzeitiger Ignoranz derselben.

Wolfgang Müller (51) trat erstmals 1981 mit seiner Band „Die Tödliche Doris“ im SO 36 auf