: „Pisa hat mir wehgetan“
Interview CHRISTIAN FÜLLER
taz: Frau Ahnen, Gerhard Schröder, Angela Merkel, die Wirtschaft – alle wollen plötzlich ganz viel an der Schule ändern. Ist das für Sie als rheinland-pfälzische Bildungsministerin ermutigend oder nervig?
Doris Ahnen: Ich find das gut. Es hilft mir politisch. Und es gibt mir auch persönlich etwas. Ich bin in die SPD eingetreten, weil mir mehr soziale Gerechtigkeit wichtig war. Bildung war der Schlüssel dazu.
Heute vor zwei Jahren brachte die Pisa-Studie erschütternde Erkenntnisse über das deutsche Schulwesen ans Licht. Diesem Schock wird das Reden über Bildung nicht gerecht, es wirkt wie ein großes Geschwafel.
Das sehe ich anders. Die Gesellschaft nimmt die Defizite von Schule wieder stärker wahr. Mittlerweile diskutieren alle darüber, auch die „große“ Politik. Das ist wichtig. Die konkreten bildungspolitischen Veränderungen aber müssen wir in den Ländern schon selber vornehmen. So will es das Grundgesetz.
Was hat Ihnen bei Pisa besonders wehgetan?
Viel zu viel. Die schlechten Durchschnittswerte unserer 15-Jährigen, also der Leistungsrückstand im internationalen Vergleich. Dann die extrem breite Streuung zwischen guten und schlechten Schülern, von denen es noch dazu viel zu viele gibt. Am meisten hat mich der enge Zusammenhang erschreckt, der zwischen sozialer Herkunft und der Bildungsbeteiligung beziehungsweise dem Bildungserfolg herrscht. Kinder mit Migrationshintergrund sind dadurch doppelt benachteiligt. Lauter ernste Befunde.
Ihre Schüler in Rheinland-Pfalz haben bei Pisa doch ganz gut abgeschnitten.
Das stimmt. Aber ich kann mich doch nicht damit zufrieden geben, dass ich bundesweit auf Platz vier stehe. Pisa hat erhebliche Defizite der deutschen Schule aufgedeckt – auch in Rheinland-Pfalz.
Was kann die Nation von Ihnen lernen? Immerhin werden Sie bald die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK) sein.
Wir dürfen uns nicht mit Einzelmaßnahmen begnügen. Wir müssen große Reformzüge in Bewegung setzen. Die Ganztagsschule ist so ein Beispiel. Mit ihr ist vieles möglich: mehr Zeit für Lernen und für individuelle Förderung, ein offeneres Verständnis von Schule. Wir haben damit in Rheinland-Pfalz begonnen.
Jedes Kind weiß mittlerweile, dass Ihr Ganztagsschulkonzept bundesweit Vorbildwirkung hat. Sonst weiß man nicht so viel über Ihr angebliches Bildungsmusterländle.
Ich glaube, dass bei uns so etwas wie ein roter Faden in der Bildungspolitik erkennbar ist. Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir nicht weniger, sondern mehr Hochqualifizierte brauchen. Das war schon so, als viele noch Grafiken hoch hielten und darüber klagten, dass wir viel zu viele Abiturienten hätten. Wir denken da anders: Wir wollen besser ausgebildete Menschen – und wir wollen viel mehr davon, als es bislang gibt.
Klingt programmatisch. Wie wollen Sie das erreichen?
Wir müssen die Lehr- und Lernkultur verändern. Für mich ist die eine wichtige Botschaft von Pisa, dass der Unterricht in den Schulen besser werden muss. Das heißt, wir brauchen mehr individuelle Förderung der SchülerInnen.
Jeder Lehrer wird sagen, dass er sich um seine Kinder kümmert.
Bisher galt in Deutschland primär der Grundsatz: Alle Schüler einer Lerngruppe müssen möglichst gleich gut sein, dann geht's gemeinsam voran. Das bedeutet aber auch: Wer nicht so gut ist, hat große Probleme. Das Augenmerk wurde zu stark auf leistungshomogene Gruppen gelegt, Heterogenität als Nachteil empfunden. Pisa hat diesen Grundsatz über den Haufen geworfen.
Wie das?
Während wir mit den homogensten Lerngruppen der Welt nur mittelmäßige Leistungen erzielen, stehen Länder mit gemischten Gruppen viel besser da als wir.
Und was wird jetzt anders gemacht?
Wir setzen auf Unterrichtsentwicklung und Vergleichbarkeit. Es wird zwar auch in Zukunft Phasen lehrerzentrierten Frontalunterrichts geben – aber wichtiger werden die Formen, wo Schüler eigenverantwortlich arbeiten, wo sie selber an Lösungswegen tüfteln. Wir dürfen kein Kind stehen lassen, sondern es da abholen, wo es ist. Das ist der Kern der individuellen Förderung – und eine nachhaltige Umstellung des Unterrichts in den Schulen.
Haben Sie nicht Angst, dass dann jeder macht, was er will?
Nein, denn die zweite Botschaft von Pisa ist, dass wir den Schulen klare Ziele vorgeben müssen. Und ihnen eine regelmäßige Rückopplung über ihre Arbeit zukommen lassen. Daran arbeiten die Kultusminister mit Hochdruck.
Sie meinen damit die neuen Bildungsstandards. Die sollen ja eine ganz wichtige Antwort auf Pisa sein. Können Sie uns das erklären?
Bisher haben wir in Deutschland mit Lehrplänen definiert, was in Schulen alles gelernt werden muss. Wir haben so den Weg vorgeschrieben und angenommen, dass dies schon zu gleichen Ergebnisse führt. Dass das oft nicht gelang, ist eine andere bittere Lektion aus Pisa.
Warum?
Es gibt in Deutschland immer noch jede Menge Lehrpläne voller exakt beschriebener Inhalte des Unterrichtsstoffs. Aber unsere Schüler können, wenn sie nach der Anwendung im Alltag gefragt werden, diese Berge von Wissen oft nicht sinnvoll einsetzen. Das bedeutet, dass die alte Idee von Schule, die einem kleinschrittigen und detaillistischen Vorschriftenwesen unterworfen wurde, an ihre Grenze gestoßen ist. Wir müssen die Handlungsspielräume für Schulen und Lehrer vergrößern.
Kann das wirklich gelingen, wenn zu den Stundentafeln, den Lehrplänen und den Curricula nun auch noch Bildungsstandards oben auf den Vorschriftenberg gepackt werden?
Das darf nicht passieren. Wenn die Standards Mitte 2004 kommen, müssen die Lehrpläne sukzessive angepasst werden. Weniger ist schließlich mehr.
Glauben Sie, dass die äußerst negativen Pisa-Ergebnisse und der Handlungsdruck den Kultusministern eher helfen oder schaden?
Sie nützen.
Die KMK kriegt ständig Prügel. Manch einer will diese träge Institution sogar abschaffen.
Überbringern schlechter Botschaften geht das oft so. Die Kultusminister wollten den Pisa-Schülervergleich ausdrücklich. Wir waren es, die beschlossen haben, dass sich Deutschland daran beteiligt. Inzwischen wird ja sogar die Kritik laut, dass wir viel zu schnell und überhastet auf Pisa reagieren.
Wo ist die KMK denn schnell?
Gerade bei der Diskussion um Bildungsstandards. Man mahnt uns, wir sollten uns für eine so grundlegende Reform mehr Zeit nehmen, ausführlicher diskutieren. Ich finde es ohnehin beachtlich, was die Kultusminister seit der Veröffentlichung der Pisa-Studie vor zwei Jahren auf den Weg gebracht hat.
Aha.
Das wirklich Gefährliche für die Bildungspolitik wäre doch, eine überzogene Erwartungshaltung aufzubauen. Es gibt nicht den Hebel, den man umlegen könnte, und dann würde sofort alles besser. Das ist weltfremd. Wer die Pisa-Studie gelesen hat, weiß, dass das nicht geht. Das absolute Minimum, bis bestimmte Maßnahmen wirken, sind fünf Jahre.
Das mag stimmen. Trotzdem haben die Menschen doch das Recht zu erfahren, was geschieht. Die Schüler, die Eltern, selbst die Industrie will wissen, wie wir den vielen Risikoschülern helfen – und wie wir verhindern, dass es immer mehr werden.
Ich bestreite das nicht. Wir müssen klipp und klar sagen, was sich in den Schulen ändern muss und in welchen Etappen das geschehen soll. Aber wir müssen ein ganzes System verändern – und dabei die LehrerInnen mitnehmen.
Ist das so schwierig? Ist das so eine neurotische Berufsgruppe?
Nein, überhaupt nicht. Aber ich muss eine Politik verantworten, wo ich die Lehrerinnen und Lehrer mit an Bord habe. Ich brauche ihre Unterstützung, denn letztlich müssen sie die bildungspolitischen Reformen tagtäglich im Unterricht umsetzen.